Kontrollverlust und Regulierungswahn
Was bleibt von der EU-Politik der vergangenen Woche? Das wichtigste Ereignis war der rasante Anstieg der Corona-Infektionen – und der Kontrollverlust, der prompt zu Überreaktionen führte. Der deutsche EU-Vorsitz hatte aber auch eine gute Nachricht für Reisende – nur leider ändert sie in der Praxis wenig.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO meldete erstmals mehr als 100.000 Neuinfektionen an einem Tag in Europa. Der niederländische Premier Rutte sagte: “Wir gehören zu den drei am schlimmsten betroffenen Ländern in Europa, und es ist schlechter als in Amerika”.
Doch die deutschen Medien machen sich weiter über US-Präsident Trump und seine Corona-Show lustig. Wegen der unverantwortlichen Politik Trumps drohe in den USA das totale Chaos heißt es – dabei verliert gerade auch die Bundesregierung die Kontrolle.
Oder wie soll man es anders deuten, wenn die deutschen Testlabors nicht mehr hinterherkommen, Infektionsketten mangels Personal nicht mehr nachverfolgt werden können und sogar die Bundeswehr zur Aushilfe in die “Hotspots” geschickt wird?
Dieser Kontrollverlust führte leider erneut zu Überreaktionen. In Frankreich und Belgien wurden Bars und Cafés geschlossen, in Deutschland gibt es nun “Beherbergungsverbote” und teilweise doppelte Test-Pflicht für Menschen, die von Berlin an die Ostsee wollen.
All dies wird mit dem angeblich kritischen Grenzwert von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner begründet. Dabei hat der keine wissenschaftliche Grundlage, er wurde willkürlich in Berlin festgelegt. Es sei ein Fehler, daran festzuhalten, so der Epidemiologe G. Krause.
Der deutsche EU-Vorsitz hält jedoch nicht nur daran fest, sondern macht die so definierte “Inzidenz” nun auch noch zur Grundlage für eine neue Reiseampel. Bei einer 14-Tage-Inzidenz ab 50 sowie einer Positivrate ab 4 Prozent sollen Regionen “rot” markiert werden.
Das bedeutet praktisch ein Reiseverbot, denn die geforderten 48-Stunden-Tests, Reiseprotokolle und Quarantänen stellen ein kaum überwindbares Hindernis her. In Deutschalnd kommt auch noch ein “Beherberungsverbot” hinzu – was für ein Regulierungswahn!
Die Auflagen bleiben auch künftig im Belieben der nationalen EU-Staaten bzw. der Länder und Regionen. Der Flickenteppich widersprüchlicher Regeln und Auflagen wird nicht beseitigt – die EU ist ihrem Ziel einer Harmonisierung kaum näher gekommen.
Dennoch spricht Europastaatsminister Roth von einem Erfolg. Erstmals sei es gelungen, die “grünen” Gebiete europaweit zu definieren und Reisen zu garantieren. Zu dumm, dass diese “grünen Zonen” immer kleiner werden – selbst in Deutschland schrumpfen sie täglich…
Siehe auch “Zweite Welle – alles nur Panikmache? Ein Blick in den Hotspot Brüssel” und “Corona: Die EU kommt schon wieder zu spät”
European
13. Oktober 2020 @ 09:59
Mit Corona sind schlimme menschliche Schicksale verbunden. Das allein hindert mich daran, dem Rutte als Anführer der sogenannten Frugal4 nichts Gutes zu wünschen. Aber vielleicht kommt er jetzt in die Situation, sich zumindest annähernd in die Lage Italiens und Spaniens zu versetzen?
Kleopatra
12. Oktober 2020 @ 11:25
Die Überlastung der Krankenhäuser hängt vor allem davon ab, wie gut ausgebaut es ist. Spanien, Italien, Schweden und Großbritannien haben alle recht wenige Krankenhausbetten pro Einwohner, Deutschland sehr viel. In Brüssel scheint die Krankenhauslage eher Spanien/Italien zu entsprechen. Insofern kann man in Deutschland vor allem den Politikern dankbar sein, die in den letzten Jahren nicht Krankenhausbetten abgebaut haben, wie es jeder durchschnittlich blöde “Gesundheitsökonom” empfohlen hat.
Die Ausbreitung kann wahrscheinlich zwar verzögert, aber letztlich nicht verhindert werden. Nach den Daten des ECDC hatte Belgien Mitte April durchschnittlich knapp 280 Todesfälle täglich, gegenwärtig sind es zwischen zehn und zwanzig. Also immer noch viel besser als im Frühjahr.
ebo
12. Oktober 2020 @ 12:17
Die neue belgische Tracing-App “Coronalert” meldet mir:
– 4153 tägliche Infektionen (+88%) (auf Wochenbasis)
– 96 tägliche Krankenhausaufenthalte (+38%)
– 16 tägliche Verstorbene (+71%).
Klingt nicht gut, finde ich. Es sind eben nicht nur die Infektionen, die steigen…
European
13. Oktober 2020 @ 10:18
Ein Bericht über den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Wirklich lesenswert, vor allem wenn es um die Gesundheitssysteme geht. Die EU und allen voran Deutschland haben immer wieder Druck auf die Länder ausgeübt, ihre Gesundheitsausgaben zu senken. Analog der “Griechenlandrettung”: Wirtschaft zerstört, Gesundheitssystem zerstört, Arbeitslosigkeit hoch, aber immerhin dürfen sie sich das “Schutzschild Europas” nennen, wie Ursula von der Leyen es so schön darstellte.
https://www.martin-schirdewan.eu/wp-content/uploads/2020/02/Discipline-and-Punish-EU-Stability-and-Growth-Pact-2.pdf
ebo
13. Oktober 2020 @ 10:33
Danke, das hatten wir aber auch schon in diesem Blog: Renten kürzen, Löhne deckeln: Was Brüssel so alles fordert
Der Stabilitätspakt ist wg. Corona ausgesetzt und wird es auch bis Ende 2021 bleiben…
Kleopatra
12. Oktober 2020 @ 09:27
Die tatsächliche Gefährlichkeit der Infektion läuft darauf hinaus, wie hoch der Anteil der Infizierten ist, die eine schwere Erkrankung entwickeln oder sterben. Da viele keine Symptome entwickeln, und diese oft keinen Anlass haben, einen Test durchführen zu lassen, dürften die Angaben über Infektionen deutlich niedriger sein als tatsächlich. “Fallsterblichkeit” hängt von der Frage ab, ab wann jemand ein “Fall” ist (dass die Patienten in den Krankenhäusern häufig versterben, sagt wenig aus, weil natürlich nur die schwersten Fälle in Krankenhäusern behandelt werden). Bei der Grippe weiß man nur ungenau, wie die Sterblichkeit aussieht (NB: die Viren sind jedes Jahr andere und daher unterschiedlich gefährlich), aber da niemand sich für das durchaus vorhandene Risiko, an der Grippe zu sterben, interessiert, kann man nur anhand der sogenannten “Übersterblichkeit” schätzen. Nach der gibt es in Deutschland alle zwei-drei Jahre eine starke Grippesaison mit vorsichtig geschätzt um die zwanzigtausend Toten.
Das bemerkenswerteste Ergebnis der statistischen Auswertungen für die meisten westeuropäischen Länder ist, dass zwar die “gemeldeten Infektionen” diesen Herbst stark ansteigen und oft die Werte vom Frühjahr erreichen oder übertreffen, aber viel weniger Patienten daran versterben. Wenn das nicht ein völlig anderes Virus ist (unwahrscheinlich), hat man wohl im Frühjahr den Großteil der Infizierten ohne Symptome nicht als solche erkannt, und dann sind die Angaben zur Fallsterblichkeit, die von diesen Zahlen ausgehen, stark überhöht und im rund wertlos.
ebo
12. Oktober 2020 @ 09:38
Was am Ende wirklich zählt, ist zweierlei: die (Über)Last der Krankenhäuser und die (Über)Streblichkeit.
In Deutschland ist man von Problemen noch weit entfernt, in Belgien und Holland hat man schon die Kontrolle verloren und muß improvisieren…
Deshalb sgae ich immer: Europa, schau auf Brüssel 😉
Ute Plass
11. Oktober 2020 @ 20:36
“Die Auflagen bleiben auch künftig im Belieben der nationalen EU-Staaten bzw. der Länder und Regionen. Der Flickenteppich widersprüchlicher Regeln und Auflagen wird nicht beseitigt – die EU ist ihrem Ziel einer Harmonisierung kaum näher gekommen.”
Und das alles, obwohl, wie die WHO in folgender Meldung offeriert, dass
das Virus tatsächlich nur so gefährlich wie eine gewöhnliche Grippe ist.
https://vitalstoff.blog/2020/10/11/who-gibt-zu-sterblichkeit-von-covid-bei-014-prozent/
ebo
11. Oktober 2020 @ 21:21
Nein, das gibt selbst der zitierte Beitrag nicht her. Die WHO hat keinesfalls erklärt, dass das Virus “nur” so gefährlich wie eine Grippe sei.
Auch die Zahlen sind falsch. Die richtigen (offiziellen) stehen hier: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1103785/umfrage/mortalitaetsrate-des-coronavirus-nach-laendern/
Demnach lag die “Fallsterblichkeit” in Italien bisher bei 10,66 Prozent, in Frankreich bei 4,57 Prozent und in Deutschland immerhin noch bei 3,03 Prozent. Also weit höher als bei einer Grippe…
Bertil Fuchs
11. Oktober 2020 @ 09:50
Bravo! Sie treffen damit den Nagel auf den Kopf. Ergänzend zitiere ich Henryk M. Broder: “Es gibt zwei Problemvölker auf Erden: Die Deutschen und die Juden. Auch George. B. Shaw lässt grüßen: “Die Deutschen haben eine Besessenheit, jede gute Sache so weit zu treiben, bis eine böse daraus geworden ist.