Gelten deutsche Corona-Regeln bald EU-weit?
Die Bundesregierung will Ordnung in das (selbst verschuldete) Chaos der Reisewarnungen bringen; die EU-Kommission will (nach jahrelanger Untätigkeit) einen neuen Dieselskandal verhindern – und Ungarns Regierungchef Orban macht schon wieder Ärger: Die Watchlist EUropa vom 2. September 2020.
Die Absage kam in letzter Minute, und sie traf das halbe Europaparlament. Wegen der aktuellen Corona-Reisewarnung für Brüssel könne die Bundesregierung derzeit leider keine Minister in die EU-Kapitale schicken, hieß es in Berlin.
Das wäre nicht weiter schlimm – wenn die Reisewarnung nicht ausgerechnet aus Deutschland gekommen wäre. Berlin warnt vor Reisen nach Brüssel – und legt damit nicht nur das Europaviertel, sondern auch den eigenen EU-Vorsitz lahm.
Ausgerechnet jetzt, da die deutsche Präsidentschaft nach der Sommerpause durchstarten wollte, platzt ein Termin nach dem anderen, Planung ist kaum noch möglich.
Doch nicht nur Deutschland sorgt für Ärger. Auch andere EU-Länder haben Chaos angerichtet. „Deutschland warnt vor Brüssel, Finnland warnt vor Deutschland, und niemand blickt mehr durch bei den Reisewarnungen“, klagt die grüne Europaabgeordnete Anna Cavazzini.
Jeder macht, was er will – die Leidtragenden sind Touristen, Geschäftsreisende und nun die Europapolitiker. Wer gehofft hatte, die EU-Kommission werde für Ordnung sorgen, sieht sich getäuscht.
Die Brüsseler Behörde, die sich gern als „Hüterin der Verträge“ präsentiert, hat zwar versprochen, sich für offene Grenzen einzusetzen. Doch gegen nationale Reisewarnungen könne man nichts tun.
Immerhin will sich die Kommission nun um eine bessere Koordinierung bemühen. Auch der deutsche EU-Vorsitz ist aufgewacht.
Aufgeschreckt durch die Beschwerden aus dem Europaparlament, hat die Bundesregierung einen eigenen Aktionsplan angekündigt.
Vor einer Sitzung der EU-Botschafter am Mittwoch bot Berlin sogar an, beim Kampf gegen das Reise-Chaos die Führung zu übernehmen. So sollen Risikogebiete künftig auf Grundlage gemeinsamer Kriterien bestimmt werden – und nicht nach nationalem Belieben.
Auch bei der Erfassung und Bewertung der Daten soll es mehr Abstimmung geben.
Deutsche Besserwisser
Man darf gespannt sein, was das in der Praxis bedeutet. Wird die Bundesregierung versuchen, ganz Europa die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts unterzujubeln? Wird künftig EU-weit die Zahl von 50 Infektionen pro 100.000 Bewohner zur kritischen Schwelle erklärt?
Schon jetzt folgten viele Länder dieser deutschen Vorgabe, freute sich Kanzlerin Angela Merkel auf ihrer Sommer-PK.
Dass genau dieser deutsche Richtwert für Chaos in Brüssel gesorgt hat, erwähnte Merkel mit keinem Wort. Die deutschen Besserwisser sind sich keiner Schuld bewußt…
Siehe auch “EU-Vorsitz streicht alle Termine in Brüssel” und “So wird die Reisefreiheit zur Farce”
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Watchlist
Warum hat die EU nicht rechtzeitig auf die Coronakrise reagiert, und wie geht es nun weiter? Droht eine “zweite Welle”? Diese Fragen muß die Chefin der europäischen Präventionsbehürde ECDC, Ammon, am Mittwoch im Gesundheitsausschuß des Europaparlaments beantworten. Bisher haben die EU-Abgeordneten die Krise weitgehend verschlafen – nun haben sie die Chance, für Aufklärung zu sorgen!
Was fehlt
Die neuen, strengeren EU-Vorgaben zur sogenannten Typgenehmigung von Fahrzeugen. Sie traten am Dienstag in Kraft und sollen verhindern, dass sich ein Betrug wie beim VW-Dieselgate wiederholt. Bei Verstößen kann die EU-Kommission Rückrufe starten und im Extremfall drastische Strafen von bis zu 30.000 Euro pro Fahrzeug verhängen. Gegen VW hingegen hat Brüssel keine Strafen verhängt…
Das Letzte
Neuer Streit mit Ungarn: Die EU-Kommission will gegen die kürzlich angeordnete Schließung der Grenzen vorgehen. Die Behörde wirft der Orban-Regierung eine Diskriminierung vor, weil es Ausnahmen für Reisende aus Polen, Tschechien und der Slowakei gibt. Orban hätte wohl besser daran getan, gleich alle EU-Bürger auszuschließen. Schließlich sind die doch alle irgendwie Corona-verseucht, oder?
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Peter Nemschak
2. September 2020 @ 09:40
Kein Grund zur Empörung. Es geht wie immer um relative Macht. Die Kleinen sind nur gemeinsam relativ stark, wie sich im Widerstand der “Sparsamen” gegen das EU-Budget gezeigt hat. Wenn es um die Durchsetzung demokratischer Standards geht, ist die EU, wie das Beispiel Ungarn und Polen zeigt, überhaupt schwach unterwegs. Bis Einigkeit bei den Grenzschließungsstandards zustande kommt, wird es vielleicht bereits einen Impfstoff geben, der das Problem relativiert.
Kleopatra
2. September 2020 @ 08:33
Dass die Kommission Ungarn wegen seiner Grenzschließungen angeht, während sie gegenüber Frankreiich, Italien und erst recht dem sakrosankten Merkeldeutschland in ust derselben Chose unterwürfig kuscht, wirkt wie ein überdeutlicher Beleg für die Unterstellung, sie sei aus Berlin ferngesteuert und Merkel hörig. Unabhängig davon, was man von temporären Reisebeschränkungen hält, die mit seuchenhygienischen Erwägungen gerechtfertigt werden, hat doch Ungarn kein schlechteres Recht dazu als Deutschland. Wenn hier primär Ungarn kritisiert wird, wirkt das so, als ob die EU die ost/mittteleuropäischen Mitgliedstaaten anders behandelt als die “Alten”, und damit wird letztlich jede Kritik an Vorgängen in Ungarn auf anderem Gebiet delegitimiert.
Infektionszahlen sind mindestens zum Teil von der Zahl der Tests abhängig (wer nicht getestet wird, kann als infiziert nicht gezählt werden und auch nicht als falsch positiv in der Statistik auftauchen); und mit der Fokussierung auf diese Zahlen als einziges Kriterium drckt man sich vor dem Bekenntnis dazu, dass es Ziele gibt, für die ein Risiko legitimerweise in Kauf zu nehmen ist. Man hat für Altenpflegerinnen, Spargelstecher etc. Ausnahmen organisiert, warum nicht für den EU-Vorsitz? Ist der weniger wichtig als die Spargelernte? Für die Merkelregierung anscheinend.
Holly01
2. September 2020 @ 08:13
Das würde ja dem Fass den Boden ausschlagen.
Die dümmsten Regeln werden Norm, währen Deutschland seine 6 Monate vor Allem zur vollständigen Blockade der EU nutzt.
Übrigens eine Rolle, die Deutschland schon seit Merkels Amtsantritt auszeichnet.
Alles immer erst zuzulassen ( und so gut wie möglich weiter auszubremsen), wenn man von der Realität längst überholt wurde.
vlg