Inside Brexit
Welche Hintergedanken verfolgen London und Brüssel im Ringen um den britischen EU-Austritt? Und wie könnte der Streit um den Brexit-Vertrag und den “Backstop” für Irland ausgehen? Eine Analyse.
Konfrontationskurs
Im Streit um den Brexit sind Großbritannien und die EU auf Konfrontationskurs gegangen. In Brüssel wird der neue Vorstoß von Premierministerin Theresa May, den Brexit-Vertrag noch einmal aufzuschnüren und den „Backstop“ für Irland zu ändern, als offene Kampfansage verstanden. Und das nicht nur in der EU-Kommission, die den Vertrag ausgehandelt hatte, sondern auch im Europaparlament.
Es sei „unfassbar“, dass May an einem Vertrag rüttele, den sie selbst ausgehandelt habe, beschwerte sich der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok in einer turbulenten Parlamentssitzung in Brüssel. May wirke wie ein Zauberer mit Zylinder, aber ohne Kaninchen, sagte Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer. „Sie probiert es zwei-, drei-, viermal – doch es springt kein Kaninchen aus dem Hut.“
Aber auch auf London muss die Weigerung der EU, über die britischen Änderungswünsche zu reden, wie ein Affront wirken. Schließlich ist May nach dem Abstimmungs-Marathon im Unterhaus am Dienstag nicht mehr wie bisher auf eigene Rechnung unterwegs. Zum ersten Mal weiß sie eine – wenn auch knappe – Mehrheit des Parlaments hinter sich. Für das so genannte Brady Amendment stimmten 317 Abgeordnete, davon auch einige Labour-Leute. Dagegen waren 301.
I’ve been wondering what that special place in hell looks like, for those who promoted #Brexit, without even a sketch of a plan how to carry it out safely.
— Donald Tusk (@eucopresident) February 6, 2019
Kein harter Brexit
Erstmals haben sich britischen Abgeordneten auch auf den im November vereinbarten EU-Austrittsvertrag eingelassen. Sie wollen den verhassten Deal, der noch vor zwei Wochen krachend durchgefallen war, nicht mehr ersatzlos streichen. Sie wollen auch keinen „harten“ Brexit ohne Deal wagen, wie eine Mehrheit in einem (rechtlich nicht bindenden) Votum klarstellte. Nun geht es nur noch um den Backstop, für den „alternative Lösungen“ gesucht werden.
Das sollte nicht unmöglich sein, auch wenn die EU dies behauptet. Man habe bereits während der fast zweijährigen Verhandlungen über den Austrittsvertrag nach Alternativen gesucht, aber keine gefunden, heißt es in Brüssel. Zudem müsse May konkret sagen, wie sie den „Backstop“ verändern will, ergänzte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD). Er wiederholte damit die alte EU-Sprachregelung, die Briten müssten nun endlich sagen, was sie wirklich wollen.
Doch was die Briten wollen, ist alles andere als ein Geheimnis. Sie stoßen sich an der Vereinbarung, dass der „Backstop“, der eine Zollunion und eine enge Anbindung Großbritanniens an EU-Recht vorsieht, zeitlich unbegrenzt gelten soll. Auf Widerstand stößt auch eine Klausel, derzufolge sich London nicht aus dieser „Rückfalllösung“ zurückziehen kann. Dies sei mit dem Völkerrecht nicht zu vereinbaren, meinen Rechtsexperten, die die Londoner „Times“ zitiert.
Mögliche Alternativen
Auch mögliche Alternativen sind bereits hinlänglich bekannt. So könnte man den „Backstop“ auf fünf Jahre befristen, wie dies Polen vorgeschlagen hat. In dieser Zeit könnte dann das noch fehlende Partnerschaftsabkommen mit der EU ausgehandelt werden, das den „Backstop“ schließlich überflüssig machen würde. Denkbar wären auch bilaterale Vereinbarungen zwischen London und Dublin, die die neue EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland sichern und den europäischen Binnenmarkt schützen könnten.
Mit ein wenig Phantasie und gutem Willen sollte all das machbar sein. Auch Nachverhandlungen sind keine unüberwindbare Hürde. In den letzten Jahren hat es immer wieder Situationen gegeben, in denen die Europäer ausgehandelte Verträge wieder „aufgemacht“ haben. Das war beim EU-Vertrag von Lissabon so, der auf Wunsch Irlands nachträglich ergänzt wurde. Ein anderes Beispiel sind die Verhandlungen mit Kanada über das Freihandelsabkommen CETA. Damals schaffte es Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) fast im Alleingang, den Text substanziell zu verändern.
Im Falle Großbritanniens wären Nachverhandlungen sogar besonders einfach. Denn London hat den Austritts-Vertrag nicht ratifiziert, auch das Europaparlament muss noch zustimmen. Es ist also noch nicht alles in Stein gemeißelt – auch wenn dies in Brüssel gern so dargestellt wird. Vor allem die Europaabgeordneten spielen mit gezinkten Karten. Sie präsentieren sich als Gralshüter der europäischen Ordnung, dabei haben sie die Ratifizierung des Brexit-Deals immer wieder aufgeschoben.
On the EU side, nobody is considering this. Asked whether any assurance would help to get the Withdrawal Agreement through the Commons, the answers of MPs were … inconclusive …. The meeting confirmed that the EU did well to start its no deal preparations in December 2017.
— Martin Selmayr (@MartinSelmayr) February 4, 2019
Die Motive der EU
Allerdings haben auch die Europäer gute Gründe, nicht sofort auf die neue Initiative aus London einzugehen. Zum einen hat die EU das Vertrauen in Premierministerin May verloren – sie gilt als unberechenbare Spielerin, die „Rosinen picken“ und die geschlossene Front der 27 verbleibenden EU-Staaten aufbrechen will. Zum anderen reicht den EU–Politikern die knappe Mehrheit im Unterhaus nicht, auf die May ihren neuen Vorstoß stützen will.
Um den Brexit-Deal nachzubessern oder das Austrittsdatum (bisher: 29. März) zu verschieben, müsse man sich auf eine breite Mehrheit in London verlassen können, deutete EU-Ratspräsident Donald Tusk an. CDU-Mann Brok sagt es unverhohlen: May müsse auf Oppositionsführer Jeremy Corbyn zugehen und eine parteiübergreifende Koalition zusammenbringen. Mit anderen Worten: May soll die Gräben kitten, die der Brexit aufgerissen hat, und dem „Modell“ deutscher Konsenspolitik nacheifern.
Doch diese Bedingung ist völlig unrealistisch. Die auf Konflikt und Streit angelegte politische Kultur Großbritanniens wird nicht über Nacht einem Konsensmodell weichen – auch wenn Corbyn nun zu Gesprächen mit May bereit scheint. Wer solche Forderungen aufstellt, ist wohl nicht wirklich an Kompromissen interessiert. Eher scheint es darum zu gehen, den Brexit hinauszuzögern oder – das wünschen sich viele in Brüssel – ein neues Referendum zu ermöglichen, das den Verbleib in der EU sichern könnte.
Problem Backstop
Doch einen weiteren Aufschub müsste May bei der EU beantragen. Derzeit spricht wenig dafür, dass sie dazu bereit sein könnte. Die Europäer haben aber noch ein weiteres Problem. Sie sind, was Irland und den „Backstop“ betrifft, nicht ganz aufrichtig. Offiziell ist der „Backstop“ dazu gedacht, eine „harte Grenze“ zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland zu verhindern, um den Frieden zu sichern. Doch genau diese Grenze würde entstehen, wenn Großbritannien Ende März ohne Deal aus der EU austritt.
Irland wäre nach EU-Recht sogar verpflichtet, sich selbst um den Grenzschutz zu kümmern. Das hat die EU-Kommission klargestellt. Dublin müsste die neue Aussengrenze sichern und den Grenzverkehr überwachen, um den europäischen Binnenmarkt nicht zu gefährden. Im Ernstfall wäre der Binnenmarkt also wichtiger als der viel beschworene Frieden an der inneririschen Grenze – ein Dilemma, über das man in Brüssel ungerne spricht. May könnte dieses Dilemma nutzen, um einen Keil in die Front der EU-27 zu treiben.
Bisher ist ihr dies zwar noch nicht gelungen. Die 27 stehen wie ein Mann hinter Irland. Doch mit dem Vorstoß zur Änderung des „Backstops“ hat May den Druck auf die Iren erhöht. Wenn der irische Premier Leo Varadkar seine Position überdenken sollte, könnte eine neue Lage entstehen. Die Drähte zwischen Brüssel, Berlin und Dublin laufen bereits heiß. Auch May steht mit Varadkar in Kontakt. Am Ende könnte doch noch ein Kompromiss stehen – auch wenn es derzeit eher nach Konfrontation aussieht.
Dieser Beitrag ist zuerst auf “telepolis” erschienen. Dort hat er eine heftige Debatte ausgelöst, zu den Kommentaren geht es hier. Mehr zum Brexit hier
[bctt tweet=”Auch Nachverhandlungen beim #Brexit sind keine unüberwindbare Hürde. In den letzten Jahren hat es immer wieder Situationen gegeben, in denen die Europäer ausgehandelte Verträge wieder „aufgemacht“ haben.” username=”lostineu”]
Reinhard Lauterbach
7. Februar 2019 @ 15:03
Eine Korrektur: die anderen 27 stehen nicht “wie ein Mann” hinter Irland. Der polnische Außenminister Czaputowicz hat schon öffentlich Ratschläge gegeben, wie er den Brexit “retten” könne – durch eine zeitliche Befristung des Backstop. Bisher ist das in Brüssel, wie man lesen kann, eher auf Konsternation gestoßen. Aber das kann sich ja ändern.
Aur der anderen Seite: mit der ganzen Backstop-Streiterei bekommen die Briten jetzt die späte Quittung für 800 Jahre quasikoloniale Unterdrückung der Iren. Geschieht ihnen recht.
Solveig Weise
7. Februar 2019 @ 09:57
@ ebo: Eine ausgezeichnete Analyse, vielen Dank dafür!
Oudejans
7. Februar 2019 @ 09:33
>>”Mit anderen Worten: May soll die Gräben kitten, die der Brexit aufgerissen hat, und dem „Modell“ deutscher Konsenspolitik nacheifern.”
Einmanneinwort! Wer aus der EU raus will, muß deutscher werden. Parlamente, die sich politischen Entscheidungen in den Weg stellen, sind nicht hilfreich. Wahrscheinlich müssen wir uns auch noch mal über gewisse Texte aus 1787 und 1791 beugen. Damals wurden viele Fehler gemacht. Seien wir unerbittlich.
>>”Irland wäre nach EU-Recht sogar verpflichtet, sich selbst um den Grenzschutz zu kümmern. Das hat die EU-Kommission klargestellt.”
Dr. Sciatica: How I Learned to Stop Worrying and Love the Border. Demnächst…
Peter Nemschak
6. Februar 2019 @ 16:53
Der Frieden in Irland ist primär das Interesse der Republik Irland und Nordirlands. Eine Lösung sollte daher von diesen beiden Akteuren ausgehandelt werden. Die anderen EU-Staaten sind primär am Binnenmarkt interessiert und haben wenig Motivation ein zwischenirisches Problem zu lösen.
ebo
6. Februar 2019 @ 17:08
Volle Zustimmung! Doch die EU hat dieses bilaterale Problem zur Frage von Krieg und Frieden erklärt. Besser wäre es gewesen, das Irland-Problem bilateral klären zu lassen – und vom Binnenmarkt zu trennen. Nun haben wir einen unentwirrbaren Mischmach, der mit “Friedenssicherung” verbrämt wird, aber in einem “No deal” mit harter Grenze enden könnte!