Hamas-Angriff: Die Vorgeschichte und die Reaktion der EU
Die EU hat den tödlichen Angriff der Hamas scharf verurteilt und sich vorbehaltlos hinter Israel gestellt. Die Vorgeschichte wird dabei ausgeblendet – dabei ist sie wichtig, um einen verheerenden Krieg zu verhindern.
Zur Vorgeschichte gehört, dass sich sowohl die EU als auch die USA kaum noch für den Nahost-Konflikt interessieren. Der Krieg in der Ukraine hat alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen und Kapazitäten gebunden.
Die USA haben sogar Waffen aus Israel abgezogen, um sie in die Ukraine zu schicken. Dabei ist dem Westen offenbar entgangen, dass die Lage nicht nur in Osteuropa, sondern auch im Nahen Osten eskaliert.
Nicht nur die islamistische Hamas hat sich, mit iranischer Hilfe, immer mehr radikalisiert. Auch Israel ist extremer geworden. In der ehemals einzigen Demokratie im Nahen Osten sind nun Rechtsextreme an der Macht.
Sie haben die Palästinenser sowohl im Westjordanland als auch in Gaza schikaniert und die Siedler aufgerüstet. “Amnesty International” sprach schon im Februar 2022 von einem System der “Apartheid”.
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Zwei Tage vor dem Terror-Angriff der Hamas kam es zudem zu einem brisanten Vorfall an der Al Aksa-Moschee. Mehr als 800 israelische Siedler stürmten das Gotteshaus und sperrten den Zugang für Moslems.
Doch dieser Kontext wird in den meisten aktuellen Berichten über die “al-Aqsa Deluge” (so nennt Hamas den Angriff) ausgeblendet. So entsteht der Eindruck, als käme die Eskalation aus dem nichts. Dabei hat sie sich seit Monaten abgezeichnet.
Doch weder die USA noch die EU haben etwas unternommen, um die Lage zu entschärfen. Deshalb wirken die Verurteilungen aus Brüssel und Washington nun ziemlich einseitig und wohlfeil.
Die EU-Kommission hat sogar ihr Gebäude mit der israelischen Flagge geschmückt. Zudem wird nun geprüft, ob die EU-Hilfen für die Palästinenser (weiter) gekürzt werden können.
Zur De-Eskalation trägt das nicht bei – im Gegenteil: Es dürfte vor allem Israel ermutigen, den “Krieg” gegen die Palästinenser auszuweiten. Damit steigt aber auch das Risiko einer Konfrontation mit Iran…
P.S. Vor zwanzig Jahren war die EU noch der wichtigste Anwalt für einen gerechten Nahost-Frieden. Heute legitimiert sie die Eskalation. Das sagt viel über die Entwicklung der europäischen Außenpolitik…
Godfried van Ommering
9. Oktober 2023 @ 13:51
Der Verteidiger unserer Werte im Kampf gegen das Böse hat sich per Videobotschaft an die Abgeordneten der NATO-Mitgliedstaaten dazu bequemt den Krieg im mittleren Osten für seinen Kampf zu nutzen, indem er sagte, es handele sich im Fall von Hamas und Russland um „das gleiche Böse“. Und: „nur international respektierte Regeln und das Völkerrecht könnten den Frieden in der Welt sichern“. Hatte er das letzte doch besser der israelischen Regierung sagen können, die ja durch viele Jahre hindurch die Resolutionen der VN und des Sicherheitsrates negiert. Ein hochrangiges Beratungsgremium der niederländischen Regierung hielt 2013 fest: die Palästinenser haben grosso modo das internationale Recht an ihrer Seite. Und was das Böse angeht: hier sehe ich tatsächlich einen Übereinkunft, haben doch Ukrainische Wortführer den Russen alles Menschliche abgesprochen, Tieren gleichgestellt, die es rücksichtslos zu vernichten gilt, – heute morgen verkündete der israelische Verteidigungsminister: „Keine Elektrizität, keine Nahrung, kein Treibstoff“ solle noch in den Gaza-Streifen gelangen. „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere ( tegen beesten, heißt es in der niederländischen Übersetzung) und handeln dementsprechend.“ Und damit sind wir an den Punkt geraten, wo alle Menschen guten Willens zum Widerstand aufgefordert werden: hier, an dieser Stelle, wo die Entmenschlichung des Gegners zum Richtschnur des Handelns erklärt wird, endet die Zivilisation. Und genau hier übernimmt das Böse das Regiment.
Katla
9. Oktober 2023 @ 12:52
@Godfried: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere..“
Dieser Satz ist mir auch ganz böse aufgestoßen – obwohl meine Sympathien und mein Mitgefühl in diesem Fall zunächst eindeutig der israelischen Zivilbevölkerung gelten.
Aber die Dehumanisierung von Menschen seitens von Politikern ist absolut inakzeptabel und sollte stets mit allergrößter Entschiedenheit zurückgewiesen werden. Israelische Opfer, ihre Angehörigen in ihrem Schmerz oder meinetwegen auch ich in meiner Wut dürfen so etwas sagen, aber Politiker niemals. Damit wird ein Freibrief für Völkermord ausgestellt und ich dachte immer, alle wüssten, wohin das im Extremfall führen kann. Das ist auch einer der Gründe, warum ich von Anfang an die Ukraine nicht „unterstützen“ kann. Menschen, Gruppen von Menschen sind niemals Tiere und ein Staat, dessen offizielle Repräsentanten so reden, ist am Ende der Zivilisation angekommen.
KK
9. Oktober 2023 @ 16:52
@ Katla:
„Aber die Dehumanisierung von Menschen…“
…bekommt in Deutschland den „Friedenspreis des deutschen Buchhandels“!
Noch Fragen?
Thomas Damrau
9. Oktober 2023 @ 12:24
Die Reaktion des Westens auf den Überfall der Hamas auf Israel ähnelt stark der Reaktion auf den Angriff Russlands auf die Ukraine:
1) Empörung: “Terror bzw. Angriffskrieg geht nicht” Soweit, so unbestritten – aber was macht man aus der Empörung?
2) Verquere Ursachenanalyse und daraus abgeleitete Schuldzuweisungen: “Warum ist das gerade jetzt passiert?” und rückblickend “Hätte das nicht verhindert werden können, wenn wir vor x Wochen/Monaten/Jahren präventiv y getan hätten?” Solche Fragen kreisen um den Anlass der Untat (und wie die Untat hätte verunmöglicht werden können) und ignorieren die Ursache: den oft jahrzehntelang vorausgegangenen Konflikt. Wer sich mit den Ursachen beschäftigen möchte, muss sich meist die Frage stellen: “Wie hätte man den Konflikt entschärfen können?” Die ehrliche Antwort müsste in den meisten Fällen lauten: “Hatten wir keinen Bock drauf, da die Entschärfung des Konflikts im Widerstreit mit unseren übergeordneten Interessen stand.”
3) Aus dieser Analyse heraus müssen dann Verantwortliche (durchaus mit dem Schuldstolz des Konvertiten) Abbitte leisten: “Asche auf mein Haupt, dass ich Putin so lange vertraut habe” – “Ja, wir hätten der Palästinenser-Organisation XY früher das Handwerk legen müssen.”
4) Wirtschaftliche Muskeln spielen lassen (in dieser Disziplin fühlt sich der Westen besonders stark): “Die Burschen ruinieren wir.” (Im Falle der Hamas den Bewohnern des Gaza-Streifen den Geldhahn zudrehen.)
5) Das Opfer der Aggression zu möglichst harter militärischer Reaktion und möglichst wenig Selbstzweifeln auffordern.
6) Skeptiker in den eigenen Reihen zum Schweigen bringen: Im Falle des Überfalls auf die Ukraine durch die Beschimpfung als “Lumpen-Pazifisten”, im Falle der Terroraktionen der Hamas (noch wirkungsvoller) als “Anti-Semiten”. Im Falle der ob des Anschlags jubelnden Araber in Berlin kann man sogar noch elegant eine Verknüpfung mit der brodelnden Migrations-Debatte knüpfen: “Abschieben / deutschen Pass entziehen”.
7) Hoffen, dass der Brandherd durch harte Reaktionen schnell gelöscht werden kann.
8) Enttäuschung und Durchhalteparolen, wenn das Feuer weiter brennt. (Soweit sind wir beim Hamas-Überfall noch nicht …)
Siegfried Alisch
9. Oktober 2023 @ 11:14
Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass dieser Konflikt so alt ist, wie der Staat Israel und ist von Anfang an geopolitisch bedingt. Stellen Sie sich bitte die Frage “Wem nutzt es?” Was ging in Israel vor? Die neue israelische Regierung war dabei die Demokratie auszuhebeln und der Rechtsruck richtete sich auch mit Härte provokativ gegen die Palästinenser. Auf den Straßen gibt es seit Monaten Massendemonstrationen, selbst Armeeangehörige beteiligten sich.
Geopolitisch bewegt sich doch viel mehr. China bringt Saudis, Iraner und Syrer zusammen. Saudis wollen das Klima mit Israel verbessern. Es roch endlich nach Entspannung in Nahost. China kam mit dem neuen Seidenstrassen-Projekt ein Stückchen voran. Wem kann das wohl nicht gefallen? Wer hatte welche Entwicklung übersehen? Wem verlangt es nach Korrektur?
Die Finanziers der Hammas sind vermutlich Iran und Katar. Aber warum setzte sich gerade der Mossad für die Finanz-Ausstattung der Hammas in Katar ein?
Mit dem Ausbruch dieser blutigen Angriffe der Hamas ist Israel wieder innenpolitisch geeint. Der Blick des Westens richtet sich wieder voll auf Israel.
Wie sich die anderen Partner in Nahost einschließlich China u.a. verhalten werden muss sich noch erweise.
Kleopatra
9. Oktober 2023 @ 08:19
Mit Leuten, die “kämpfen” wie die Hamas-Palästinenser, kann man keinen “Frieden” schließen und die einzige mögliche Koexistenz mit ihnen setzt eine möglichst fixe Grenzbefestigung voraus. Wie es ja ähnlich auch häufig Schäfern zum Schutz gegen Wölfe empfohlen wird.
Der Vorfall in der Al-Aqsa-Moschee kann mit dem Angriff nichts zu tun haben. Dieser war so umfangreich, dass man schließen kann, dass er mindestens seit Monaten vorbereitet wurde. (Ihre eigene Bemerkung, die Eskalation habe sich “seit Monaten abgezeichnet” widerspricht ja auch dem angenommenen Zusammenhang). Dass er gerade jetzt erfolgte, hat sicher eher mit dem symbolischen Datum zu tun (nahezu exakt 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg). Außerdem spielt eine Rolle, dass der Tag des Überfalls der achte Tag Sukkot war und somit Israel wegen des Feiertags stärker verwundbar war (entsprechend dem Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren.
Geheimdienste haben manchmal Erfolg und manchmal nicht. Wenn sie etwas nicht vorhergesagt haben, ist es leicht sie in Grund und Boden zu kritisieren. Allerdings hat der CIA den russische Überfall auf die Ukraine korrekt vorhergesagt (m.W. im Gegensatz zu vielen europäischen Kollegen…)
ebo
9. Oktober 2023 @ 08:50
Militärische Aktionen werden immer von langer Hand vorbereitet. Damit sie lanciert werden, braucht es aber einen Anlaß oder meinetwegen auch Vorwand. Der Vorfall in der Al-Aqsa-Moschee war genau das. Nicht zufällig heißt die Terror-Aktion ja auch Al-Aqsa Flood – wohl in Anspielung auf die “Flut” von ulrareligiösen Juden, die die Moschee in Beschlag genommen hatten. Hamas ist eine radikal-islamistische Organisation, das sollten wir nicht vergessen…
Kleopatra
9. Oktober 2023 @ 09:13
@ebo: Ich konzediere gern, dass die Hamas möglicherweise den Namen der “Aktion” spontan gewählt hat. Aber der Zeitpunkt 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg und am 8. Tag Sukkot spricht gegen irgendwelche Spontaneität beim Beginn des Angriffs. D.h.: ohne den Zwischenfall in der Al-Aqsa-Moschee hätte die Hamas wahrscheinlich einen anderen Namen gewählt, wäre aber sonst gleich vorgegangen.
ebo
9. Oktober 2023 @ 09:45
Ok, aber dennoch gehört das Treiben der Ultraorthodoxen zum Kontext, genau wie die rassistische Politik von Netanjahu
Armin Christ
9. Oktober 2023 @ 08:11
Jetzt wissen wir wnigstens wo die in deer Ukraine verschwundenen Waffen gelandet sind.
KK
8. Oktober 2023 @ 21:09
„Die Vorgeschichte wird dabei ausgeblendet“
Eine wohl einstudierte Praxis des Westens.
Selbst im ÖRR wurde in den letzten Monaten immer wieder von den Aktionen der neuen extrem-rechten israelischen Regierung im Westjordanland, der Ausweitung und Bewaffnung der Siedlungen, auch von Sippenhaftung berichtet (Zerstörung der Wohngebäude, die den Familien mutmasslicher „Terroristen“, zu denen man freilich schon als jugendlicher Steinewerfer bei einer Protestaktion gezählt werden kann, gehörten) – jetzt kein Wort mehr davon. Die Einseitigkeit der Berichterstattung, die wir aus der Ukraine ja bereits gewohnt sind, setzt sich hier jetzt fort.
ebo
8. Oktober 2023 @ 23:43
Es sieht leider ganz so aus. Man muß wohl Haaretz lesen, um auch mal Kritik an Israel und insbesondere an Netanjahu zu hören: https://www.haaretz.com/opinion/editorial/2023-10-08/ty-article-opinion/netanyahu-bears-responsibility/0000018b-0b9d-d8fc-adff-6bfd1c880000?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter
B. S.
8. Oktober 2023 @ 19:08
Die Vermutung,
das die Rechtsradikale Regierung Netanjahu einen Vorwand sucht,um ihre rassistische und faschistische Politik vom Volk oder einem Teil davon, absegnen zu lassen,ist nicht unbegründet.
Das Prinzip des „Sündenbocks“ einmal andersrum.
Es bleibt abzuwarten, wieweit die USA und die EU sich der Sache annehmen und Israel ermuntern den Palästinensischen Staat endgültig zu zerschlagen.
Neue Siedler stehen schon bereit . . .
Ebo
8. Oktober 2023 @ 18:29
Es gibt ja schon die (Verschwörungs-) These, daß Mossad im Bilde war und Hamas angreifen ließ, um die Ziele der rechtsradikalen Regierung voran zu bringen. Ist aber mit Vorsicht zu genießen. Ein totales Versagen der Geheimdienste wäre allerdings auch beunruhigend
Katla
8. Oktober 2023 @ 18:09
@ebo: vor 3 Tagen hörte ich von Robert C. Castel, israelischer Militäranalyst,in einem Podcast zu den Umständen des Jom-Kippur-Krieges Folgendes: Geheimdienste, militärische Aufklärung, etc. waren wohl schon im Bilde, dass da etwas kommt. Hatten aber auch folgendes Dilemma: ein Präventivschlag, dem sie zu jenem Zeitpunkt militärisch nicht gewachsen gewesen wären. Oder angreifen lassen und dann zurückschlagen, damit würden sie als Opfer eines Angriffs nicht als Agressoren dastehen und auf internationale Unterstützung rechnen können.
Wie gesagt, das war vor 50 Jahren und es lassen sich keine Parallelen ziehen. Aber trotzdem ein interessanter Gedanke bei der Überlegung, dass die leistungsfähigsten Dienste der Welt nix gemerkt haben sollen.
Arthur Dent
8. Oktober 2023 @ 16:22
Wozu unterhält der Westen eigentlich Botschaften, diplomatische Dienste als auch Geheimdienste? Solche Aktionen werden sicherlich monatelang geplant und dann hat man wie immer „nichts kommen sehen“, ist vollkommen überrascht.
Annette
9. Oktober 2023 @ 14:34
Könnte sich genau s auch in der ukrainischen Regierung abgespielt haben, dieser Gedankengang, zumindest bei den Sicherheitsberatern