Guérots Europa: Aus der Traum

Nach einem unglücklichen Abstecher in die Gesundheitspolitik (Corona!) wendet sich die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot wieder ihrem Herzensanliegen zu: Europa. Ihr Essay “Endspiel Europa” provoziert und irritiert – dennoch ist es ein wichtiges Buch.

Guérot kennt die Europapolitik wie kaum eine andere. Sie hat mit dem CDU-Politiker Karl Lamers zusammengearbeitet, stand dem früheren EU-Kommissionschef Jacques Delors (einem Sozialisten) nahe und arbeitete jahrelang für proeuropäische Thinktanks in Paris und Berlin.

Ihr Buch “Warum Europa eine Republik werden muss!” war ein Besteller, von seinem Erscheinen 2016 bis zur Europawahl 2019 prägte es die europapolitische Debatte. Es gab die Richtung vor, auch wenn viele Prämissen schon damals nicht überzeugten.

Guérot träumte von einer europäischen Bürgergesellschaft, die die EU durch Ausrufung gleicher Rechte in eine Republik umwandeln sollte. Die Nationalstaaten würden nur noch eine Nebenrolle spielen, im Mittelpunkt stünden die Bürger und die Regionen.

Daraus wurde nichts, das “deutsche Europa” (U. Beck) und der Nationalismus waren stärker. Abtrünnige Regionen wie Katalonien wurden mit EU-Hilfe zurück ins Glied gezwungen, die Bürgerrechte wurden in der Coronakrise ausgehebelt – und Brüssel sah zu.

Nun herrscht wieder Krieg in Europa, und die EU kämpft mit. Wie schaut Guérot auf diesen Konflikt? Im Gegensatz zu den meisten Beobachtern macht sie sich nicht den ukrainischen Blick zu eigen, sondern versucht, ihrer alten Liebe “Europa” treu zu bleiben.

“Europa”, das ist für Guérot und ihren Co-Autor Hauke Ritz eine mythische Gestalt, die um jeden Preis bewahrt werden muß. Ohne Russland sei Europa wie eine Frau ohne Unterleib, sagt Guérot, eine dauerhafte Trennung komme für sie nicht in Frage.

Auch ein Europa ohne Frieden und ohne politische Union kann sie sich nicht vorstellen. Beides – die “ever closer union” und eine kooperative Friedensordnung mit Russland – sei ein zentrales Ziel der Europapolitik gewesen. Damit ist es nun vorbei.

Europa ist im Krieg und verrät seine Friedenserzählung. Es will einen vermeintlich geeinten Nationalstaat verteidigen und übersieht, dass die Überwindung des Nationalstaates die europäische Epiphanie ist. In Europa könnte – so wie sich die Dinge mit Blick auf die Ukraine entwickeln – durch eine Übersprunghandlung zum dritten Mal ein Weltkrieg beginnen. Das Zeitgeschehen ist darum ein gleich dreifacher Verrat an Europa, ein Kulturbruch sondergleichen mit 70 Jahren Aufbauarbeit an Europa und Zivilität!

Endspiel Europa

Aus der Traum, möchte man sagen. Guérot ist von falschen Prämissen ausgegangen, ihre Utopie hat sich nicht bewahrheitet. Doch damit würde man dem Essay nicht gerecht. Denn zum einen legt es den Finger in die blutende Wunde des europäischen Projekts.

Was wird denn aus dem “europäischen Haus”, wenn wir Russland ausschließen? Was aus der EU, wenn sie keine Friedensunion mehr ist? Und was bleibt von der europäischen Integration? Wird sie einem neuen Groß-Europa geopfert, wie es Scholz vorschwebt?

Zum anderen verweist das Essay auf den “Elefant in the room”, die USA. Seit Gründung der EU steht die Frage im Raum, wie wir es mit den USA und der Nato halten. Soll es eine eigene, unabhängige Verteidigung geben – oder bleiben wir abhängig?

Nun, die Geschichte hat entschieden: Wir bleiben abhängig, werden sogar noch abhängiger. Selenskyjs Besuch in Washington hat gezeigt, wo der Hammer hängt. Dass es so kam, ist jedoch kein Zufall, so Guérot und Ritz. Vielmehr sei es von langer Hand geplant.

Amerika und die Spaltung Europas

Damit kommen wir zu den umstrittensten Kapiteln des Buches. Sie handeln von “Amerikas Plänen zur Spaltung Europas” und von Kriegsvorbereitungen in der Ukraine lange vor der “Zeitenwende”. Detailliert zeichnen sie die Aktionen der USA und der Nato nach.

Das trägt ihnen nun wüste Beschimpfungen ein. Die selbstgerechte Phalanx der Osteuropa-Experten will nicht eingestehen, dass Russland keine Alleinschuld am Krieg trifft. Und selbst alte (grüne) Guérot-Fans wollen ihr an dieser Stelle nicht mehr folgen.

Auch mir scheint, dass es sich die Autoren zu leicht machen. So wird die Mitverantwortung der neuen und alten EUropäer für Osterweiterung und Krieg viel zu wenig beleuchtet. “Europa” (eine Frau!) erscheint als unschuldiges Opfer böser alter Männer.

Dennoch: Wir müssen die Debatte über die Vorgeschichte des Kriegs führen. Und wir müssen darüber sprechen, worauf das “Endspiel” in EUropa hinausläuft – und sei es nur, um das Schlimmste zu verhindern.

Dafür ist das Buch ein willkommener Denk-Anstoß – auch wenn es am Ende wieder traumtänzerisch wird…

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