Geisterdebatte um Garantien, Streit über Migration – und digitale ID
Die Watchlist EUropa vom 30. Juni 2023 –
Es war ein Offenbarungseid: Man müsse sich auf einen langen Krieg einstellen, sagte Kanzler Scholz beim EU-Gipfel in Brüssel. Die Staats- und Regierungschefs sollten sich deshalb “unterhaken und sagen, wir sind bereit, das auch lange durchzuhalten”.
Der Grund: Die ukrainische Gegenoffensive kommt nicht voran. Die russischen Verteidigungslinien stehen – trotz des Geraunes um “Risse” im russischen Machtapparat. Selbst die deutsche Wunderwaffe, der Kampfpanzer Leopard, kommt nicht durch.
Doch obwohl nicht einmal klar ist, ob die Ukraine alle besetzten Gebiete zurückholen und die territoriale Integrität wiederherstellen kann, redet die EU bereits über Sicherheitsgarantien für die Zeit nach dem Krieg. Es ist eine Geisterdebatte.
Die Europäer wollen das Fell verteilen (bzw. sichern), bevor der Bär erlegt ist. Dabei kann die EU nicht einmal für die eigene Sicherheit garantieren – das macht die Nato. Zudem legen einige EU-Staaten wie Österreich großen Wert auf ihre militärische Neutralität.
Gelöst wurde das Problem wie üblich – mit Formelkompromissen. Aus den Garantien wurden vage Zusagen. Die Ukraine wird dadurch kein Stück sicherer. Die EU trägt eher zu Verunsicherung bei – bei den Bürgern, die nicht wissen, wie lange sie noch für den unwahrscheinlichen ukrainischen Sieg “garantieren” bzw. zahlen sollen…
Mehr zum Krieg in der Ukraine hier
News & Updates
- Schulterschluss mit Hindernissen. Der EU-Gipfel hisst die Nato-Flagge und sucht die Nähe zur Atlantischen Allianz. Doch Österreich und andere neutrale Staaten stellen sich quer. Auch der Umgang mit der Revolte in Russland sorgt für Differenzen. Mein Bericht für die taz hier
- Digitale Kontrolle: Die EU-Staaten haben sich auf eine digitale ID für alle Bürger geeinigt. Die „digitale Brieftasche“ kommt nur einen Tag nach dem Entwurf für den digitalen Euro. Auch die Chatkontrolle ist weiter geplant – kommt die totale Überwachung?
- Infokrieg um Kramatorsk. Nach Darstellung der Ukraine wurden bei einem russischen Angriff auf ein Restaurant in Kramatorsk zwölf Menschen getötet und etwa 60 weitere verletzt. Demgegenüber behauptet Moskau, zwei ukrainische Generäle und dutzende weitere Offiziere getötet zu haben, darunter auch “ausländische Söldner und Berater”. Man habe auf ein militärisches Ziel geschossen. Nachdenklich macht, dass Kiew die Festnahme eines mutmasslichen Hintermanns meldet. Wozu braucht man Hintermänner beim Angriff auf ein Restaurant?
Watchlist
- Beginnen noch in diesem Jahr die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine? Das fordert Präsident Selenskyj. “Die Ukraine hat Einfluss auf die Stärke Europas. Das ist ein Fakt”, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. “Und dieses Jahr ist es an der Zeit, diesen und andere Fakten zu nutzen, um die Einheit in Europa zu stärken – angefangen beim Start von Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft der Ukraine.” Was Selenskyj nicht sagte: Sein Land hat bisher nur zwei von sieben Konditionen erfüllt, die die EU-Kommission aufgestellt hat. Gestärkt hat es EUropa bisher noch nicht – sondern finanziell geschwächt. Auch deshalb fordert Brüssel einen Nachschlag beim EU-Budget…
- Scheitert der EU-Asylkompromiss? Beim EU-Gipfel haben sich Ungarn und Polen gegen den auch in Deutschland umstrittenen Deal gestemmt. Allerdings nicht wegen der Grenzverfahren und der Flüchtlingslager, sondern wegen des sog. Solidaritätsmechanismus, der die Umverteilung von Aslybewerbern und Ausgleichszahlungen vorsieht. Warschau und Budapest lehnen das strikt ab, ein Gipfelbeschluss wurde bis tief in die Nacht blockiert. Nun müssen Kanzler Scholz & Co. am Freitag sehen, ob noch eine Einigung möglich ist…
Helmut Höft
1. Juli 2023 @ 12:57
Die Europäer wollen das Fell verteilen (bzw. sichern), bevor der Bär erlegt ist. “Das Fell des Bären …” jaja, so richtig wie falsch, Zitat: Das fundamentale Problem und wesentlich Schiefe dieses Fell-des-Bären-Gleichnisses ist und bleibt, dass niemand einen Bären alleine erlegt. Niemand geht auf die Jagd nich bevor das Fell des Bären verteilt ist. Gleichzeitig verteilen und dann gemeinsam losziehen!
Damit ist die EU – und die Politniki (Tschuldigung) – natürlich überfordert, stets wird eine falsche Reihenfolge bestimmt!
KK
1. Juli 2023 @ 02:03
@ Hekla:
„@ebo: danke, dass Sie über den Informationskrieg um Kramatorsk berichten….“
An anderer Stelle war zu lesen, dass auf ins Netz gestellten Videoaufnahmen von ersten Rettungsmassnahmen durch Überlebende aus den Trümmern des „zivilen Ziels“ weit überwiegend englische Sprachfetzen zu hören gewesen sein sollen…
ebo
1. Juli 2023 @ 10:01
Gute Journalisten würden nach Kramatorsk fahren und die Fakten vor Ort checken. Leider bekommen wir nur noch die ukrainische Propaganda präsentiert, niemand prüft Selenskyjs Aussagen nach…
Arthur Dent
30. Juni 2023 @ 20:48
@ Jimmy Higgins
„Dem Statement von Thomas Damrau ist nichts hinzuzufügen, außer einem Dank an die Vierte Gewalt, die lautlos abgetreten ist.“
Die Vierte Gewalt beschreibt nicht die Wirklichkeit, die Realität wird von der „vierten Gewalt“ hergestellt. Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie´s lesen, wusste schon Karl Kraus. Wie Stimmungen erzeugt werde, hat er in „Die letzten Tage der Menschheit“ beschrieben.
Und wenn von Großmedien und Politik die veröffentlichte Meinung und die öffentlich Meinung derart auseinanderklaffen, dann haben „Russische Hacker“ bei der Einflussnahme ganze Arbeit geleistet.
Hekla
30. Juni 2023 @ 18:53
@ebo: danke, dass Sie über den Informationskrieg um Kramatorsk berichten. Da wir die Wahrheit wohl erst in Jahrzehnten erfahren werden, kann man sich hier nur die Darstellung, die einem am plausibelsten erscheint, aussuchen. Was ich mich bei solchen Nachrichten frage: weshalb befinden sich in der Ukraine häufiger mal militärische Stellungen in Wohngebieten, neben Krankenhäusern, Schulen, etc? Weshalb versammeln sich in Kriegszeiten hochrangige Militärs in einer Pizzeria?
Dem Angegriffenen scheint demnach das Leben von Zivilisten auch nicht besonders am Herzen zu liegen (das Leben von Soldaten sowieso nicht).
european
30. Juni 2023 @ 13:41
Es fehlt ein Link zum Thema Kohleausstieg und Baerbock in Suedafrika. Hiermit nachgeholt
https://www.euractiv.de/section/energie/news/baerbock-pocht-in-pretoria-erneut-auf-kohleausstieg/
KK
30. Juni 2023 @ 13:41
@ Thomas Damrau:
“Man bekommt selten, was man bestellt hat, und findet keinen Ober, bei dem man sich über die schlechte Qualität des Essens beschweren kann.”
“Herr Ober, da ist eine Fiege in meiner Suppe”
“Das ist die Einlage!”
Genau so läuft es in der EU: Jeder Dreck, den wir Bürger schlucken sollen, wird uns als Delikatesse verkauft.
Da läuft in der EU in Sachen Demokratie, so wie sie mal verstanden wurde, nur noch alles falsch, und dann will man sich noch einen korrupten Oligarchenstaat voller zum Teil faschistisch tickender Ultra-Nationalisten ins Boot holen – wo die EU doch die Bedeutung der Nationalstaaten ausdrücklich zurückdrängen soll. Wie soll das gehen ohne massive Verletzung des Lissabon-Vertrages, der in Teilen heute schon Makulatur ist?
european
30. Juni 2023 @ 13:40
Es sieht so aus, als zeichnete sich doch ein Ende des Krieges durch Verhandlungen ab. Der Hintergrund bringt aktuell eine Zusammenfassung zweier neuer Artikel auf German Foreign Policy, wo naeher auf Beweggruende eingegangen wird.
https://www.hintergrund.de/allgemein/aus-anderen-medien/der-uebergang-zur-diplomatie/
“Mit Blick auf die langsam geringer werdende Unterstützung für die Ukraine und vor allem auf den US-Präsidentschaftswahlkampf sind seit geraumer Zeit Überlegungen zu vernehmen, die auf eine Einstellung der Kämpfe nach der aktuellen ukrainischen Gegenoffensive und auf Verhandlungen hinauslaufen – wohl noch in diesem Jahr.”
Soso, der Praesidentenwahlkampf,…aha
Ein Klick auf den ersten Artikel bringt da schon mehr hervor: Hier nur die Ueberschriften
Stimmungsumschwung in den USA
Stimmungsumschwung in Europa
Politische Widerstände (z.B. der Getreidemarkt, Waffenlieferungen etc)
Den Waffenstillstand im Blick
“In den USA seien genügend Mittel „wahrscheinlich bis zum Spätsommer“ vorhanden; spätestens 2024 müsse Biden dann jedoch „stärker auf einen Waffenstillstand und eine diplomatische Lösung“ dringen. Dies sei umso mehr der Fall, als die Ukraine beim Versuch, sie „zu retten“, vollständig „zerstört werden“ könne: „Je länger dieser Krieg anhält, desto mehr fügt er dem Land enormen Schaden zu“ – (Anm: Wer haette das gedacht?)
Die schwierigsten Gespräche
Erste Verhandlungen
Allein die Chronologie der Artikelueberschriften zeigt, wohin die Reise geht. Dieser Krieg wird endlich, nach vielen voellig unnoetigen Toten, Verletzten, Traumatisierten, auf dem Verhandlungsweg entschieden werden. Hauptgrund: Die Wahl in den USA.
Was sagt uns das? 😉
Hier zum zweiten Teil. Annalena Baerbock kommt natuerlich auch darin vor.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9280
Das ist insofern erwaehnenswert, weil Baerbock in Suedafrika wieder mal verbal ausgeholt hat und nicht nur die Isolation Russlands sondern auch den Kohleausstieg der Suedafrikaner gefordert hat. Was fuer eine Chuzpe!!! Das Land, das massgeblich an den gigantischen Energiepreissteigerungen beteiligt war, von anderen Laendern – u.a. Kolumbien – mehr Kohle ueber den Atlantik schiffen will, massregelt andere Laender wegen der Kohle.
Es gibt aber auch schoene Saetze: “Jacob Maroga, der frühere Vorstandsvorsitzende des südafrikanischen Stromversorgers ESKOM, hatte Europa und den USA angesichts ihrer historischen Emissionen einmal gesagt, sie sollten bei der Bekämpfung des Klimawandels „die Klappe halten.“”
und
“Präsident Ramapahosa traf die Ministerin während ihres Besuchs allerdings nicht.”
Wen wundert’s? Sie erreicht mit ihrer trampeligen Art nur, dass Deutschland ueberall vor verschlossenen Tueren steht, wie gerade auch in Brasilien. Praesident Lula und sein Aussenminister waren nicht zu sprechen.
ebo
30. Juni 2023 @ 13:47
Habe ich auch gelesen. Hat mich nicht überzeugt. Beim EU-Gipfel wurden die Worte “Waffenstillstand” oder “Verhandlungen” kein einziges Mal erwähnt. Stattdessen schwor Scholz alle auf einen langen Krieg ein…
Jimmy Higgins
30. Juni 2023 @ 09:39
Dem Statement von Thomas Damrau ist nichts hinzuzufügen, außer einem Dank an die Vierte Gewalt, die lautlos abgetreten ist.
Glücklicherweise gibt es einzelne Recke/n/innen, deren Rufe (noch) hörbar sind.
WBD
30. Juni 2023 @ 09:12
„Die Ukraine hat Einfluss auf die Stärke Europas. Das ist ein Fakt“, sagte Selenskyj.
Ja, Recht hat er. Wir haben unsere Munitionslager geleert, und unsere Kassen – damit Selenskyj Krieg bis zum letzten Ukrainer führen kann. Das hat grossen Einfluss auf unsere Sicherheit – aber wohl im negativen Sinne…
Thomas Damrau
30. Juni 2023 @ 08:55
Es gibt sicher ein sehr harmonisches Bild, wenn die Staats-Chefs sich unterhaken. Bei all diesen Gesten der Selbstvergewisserung kommen die 450 Millionen Bürger der EU nur am Rande vor. Wollen die alle sich unterhaken, um auf Jahre hinaus knappes Geld für Waffen auszugeben?
Das möchte ich bezweifeln, wenn ich mir all die Länder in der EU ansehe, die in den Rechts-Populismus abdriften.
Aber der EU-BürgerInnen sind offensichtlich keine relevante Akteure in diesem Spiel. Kein EU-Bürger hat Frau von den Laien gewählt, aber diese Frau trifft weitreichende Entscheidungen im Namen ihrer Nicht-Wähler. Einspruch nicht möglich.
Auch in Deutschland wurden Scholz und Co. gewählt, um Umwelt- und Sozialprobleme zu lösen. Doch statt Fortschritts-Koalition bekamen die Deutschen Pistorius und Strack-Rheinmetall als Taktgeber.
Aber so ist das halt in einer repräsentativen Demokratie ohne Rückkopplung mit den Bürgern: Man bekommt selten, was man bestellt hat, und findet keinen Ober, bei dem man sich über die schlechte Qualität des Essens beschweren kann.