Dombrovskis takes it all
Kommissionschefin von der Leyen baut ihr Team um, Kanzlerin Merkel hält vorerst an Nord Stream fest – und im Flüchtlingslager Moria breitet sich das Coronavirus aus: Die Watchlist EUropa vom 9. September 2020.
Fast ein Jahr nach ihrem Amtsantritt hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen ihr Brüsseler Team umgebildet. Die deutsche CDU-Politikerin hat den konservativen Letten Dombrovskis für den Posten des Handelskommissars nominiert. Die ebenfalls konservative Irin McGuinness soll neue Finanzkommissarin werden.
Die Umbildung war nötig geworden, nachdem der bisherige irische Handelskommissar Hogan von seiner Regierung zum Rücktritt gedrängt worden war. Hogan hatte gegen nationale Coronaregeln verstoßen und war deshalb in Dublin in Ungnade gefallen. Von der Leyen blieb nichts anderes übrig, als das politische Schwergewicht zu entlassen.
Das sorgte in Brüssel für Aufsehen. Die Kommissionschefin ist nicht an Weisungen aus den Hauptstädten gebunden; über die Mitglieder ihrer Behörde soll sie allein entscheiden. Hogans Rücktritt war als Bruch mit dieser Regel gedeutet worden – aber auch als Versuch, die Kommission auf ein vorbildliches Verhalten zu verpflichten.
Die beiden Neubesetzungen sind ebenfalls ein Politikum. Zunächst entschied sich von der Leyen für eine Frau – neben McGuiness hatte Irland auch einen Mann für Brüssel nominiert. Damit signalisiert sie, dass das Prinzip der Geschlechterparität weiter hochgehalten wird. In der Brüsseler Behörde arbeiten nun 14 Männer und 13 Frauen.
Politische Signalwirkung geht aber auch von der Zuteilung der Aufgabenbereiche aus. Vizepräsident Dombrovskis bekommt noch mehr Macht. Denn neben dem Handelsressort behält er auch die Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik und die Eurogruppe. Auch die Verteilung der EU-Milliarden aus dem neuen Corona-Hilfsfonds soll er überwachen.
Damit wird Valdis Dombrovskis der mächtigste Mann der EU-Kommission. Er hat noch mehr Kompetenzen als die beiden ehemaligen Spitzenkandidaten Timmermans und Vestager, von denen man kaum noch etwas hört. Ein nicht gewählter EVP-Mann spielt alle an die Wand – dank der ebenfalls nicht gewählten EVP-Frau von der Leyen…
Siehe auch Irland entzieht Hogan das Vertrauen – Rücktritt
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Watchlist
Wie geht es weiter im Fall Nawalny? Kanzlerin Merkel hat vor der CDU-Fraktion angedeutet, dass sie derzeit keinen Stopp des deutsch-russischen Pipelineprojekt Nord Stream 2 plant. Die Kanzlerin forderte erneut eine europäische Antwort. Auf EU-Ebene läuft bisher aber auch nichts. Bisher fehlen Namen und Fakten, auf denen sich Sanktionen aufbauen ließen… – Mehr hier
Was fehlt
Die Coronakrise im europäischen Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Mittlerweile sind 35 Menschen positiv auf das Virus getestet worden. Deshalb wurde Quarantäne angeordnet; am Dienstagabend brach ein Aufstand aus. In Moria leben derzeit rund 12.600 Menschen bei einer Kapazität von nur 2800 Plätzen. Die EU schafft es nicht, das Problem zu lösen…
Das Letzte
Die britische Regierung will den Brexit-Vertrag brechen. Nordirland-Minister Lewis erklärte, das geplante neue Binnemarktgesetz “bricht internationales Recht in einer ganz bestimmten und begrenzten Weise” im Hinblick auf Nordirland. Das sei aber nicht weiter schlimm, heißt es in London. Ganz anders sieht man das in Brüssel – hier bereitet man sich schon auf einen Abbruch der Verhandlungen vor… – Mehr hier
Kleopatra
9. September 2020 @ 09:30
Das von vdL suggerierte Verfahren bei der Ernennung des neuen Kommissionsmitglieds weicht stark von der Regelung der Verträge (Art. 246 AEUV) ab; diese Nichtbeachtung der Verträge scheint aber keinen zu stören. Da anzunehmen war, dass vdL eine Frau würde ernennen wollen (angestrebte Geschlechterparität), liegt der Verdacht nahe, dass der ebenfalls zu nominierende Mann von vornherein nur als Scheinkandidat fungieren sollte, um eine Auswahl durch die Kommissionspräsidentin vorzutäuschen; was nebenbei bemerkt für diesen Kandidaten ein undankbare Aufgabe war, für die er entsprechend zu entschädigen sein wird (wird demnächst in der Kommission ein Leitungsposten frei?). Soweit ich mich erinnere, wollte vdL bereits bei der Bestellung der gesamten Kommission von jedem Staat zwei Kandidaten (Mann und Frau) zur Auswahl genannt bekommen, was sich die großen Staaten aber nicht haben gefallen lassen (m.W. waren einige kleine Staaten “gehorsam”).
Bleibt die Frage, wie man so blöd sein kann, in der Endphase der Brexit-Verhandlungen den für Handel zuständigen Kommissar auszuwechseln. Und welcher Zweck damit verfolgt wird, wenn man Kommissionsmitglieder nicht so bestellt, wie es in den Verträgen vorgesehen ist. Gezielte Abweichungen von vertraglichen Regelungen dürften das Vertrauen der Allgemeinheit in die EU-Institutionen kaum befördern.
ebo
9. September 2020 @ 10:13
Ganz Ihrer Meinung! Aber das Europaparlament scheint sich daran nicht zu stören. Hier ist “political correctness” angesagt, bei der Frauenquote wie bei den Corona-Maßnahmen, die als Vorwand für den Rücktritt Hogans herhalten mußten…
Kleopatra
9. September 2020 @ 12:44
Das Europaparlament müsste sich an die eigene Nase fassen. Denn auch es spielt hier Theater, indem es die Zustimmung zur Ernennung des Kommissionspräsidenten bzw.der Kommission als „Wahl“ bezeichnet, obwohl die Möglichkeit einer Wahl zwischen mehreren Kandidaten gerade nicht vorgesehen ist. (Diese Ausdrucksweise hat es zwar seit Lissabon bis in die Verträge geschafft, aber das Parlament hat die merkwürdige Terminologie bereits vorher angewandt). Auch die Entscheidung über einzelne Kommissionskandidaten steht ihm eigentlich nicht zu (es darf eigentlich nur die gesamte Kommission en bloc bestätigen); es hat sie sich in einer Nachahmung der Vorgehensweise des US-amerikanischen Senats bei der Bestätigung der Ministerernennungen angemaßt.
Ob man die Empörung über „Verstöße gegen Corona-Regeln“ für einen Vorwand halten soll? Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist der öffentlichen Stimmung Irlands der Gaul durchgegangen; ein irischer Minister ist deswegen zurückgetreten, und wenn der Kommissar geblieben wäre, wäre es wieder gegen die Eurokraten gegangen, „die sich alles herausnehmen dürfen“. Dummerweise gäbe es ernstzunehmende Gründe, ihnen geringere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit aufzuerlegen als dem Rest der Bevölkerung.
ebo
9. September 2020 @ 14:33
Die EU-Abgeordneten haben Sylvie Goulard durchfallen lassen und sich so an Macron gerächt. Das muss offenbar reichen. Auf den Gedanken, von der Leyen oder Dombrovskis herauszufordern, kommt in Brüssel keiner, es läuft ja alles so rund…