Die Wahl der Chefs
Sieht so die neue EU-Demokratie aus? Nicht das Europaparlament, sondern die Regierungen sondieren, wer der nächste Kommissionschef werden soll. Derweil beraten die Abgeordneten über einen Koalitionsvertrag – doch für welche Koalition?
English version here.
Es ist eine illustre Runde, die sich am Freitag zum Abendessen in Brüssel trifft, und sie hat eine heikle Mission: Sechs Regierungschefs aus drei Parteienfamilien sollen ausloten, wer die Topposten in der EU ergattern könnte. Zwei Wochen nach der Europawahl werden sie auch über den künftigen Kommissionschef reden.
Doch die neu gewählten EU-Abgeordneten werden an den Sondierungs-Gesprächen ebenso wenig beteiligt wie die Wahlgewinner von den Grünen. Das Wort führen Konservative (u.a. mit Kroatiens Regierungschef Andrej Plenkovič), Sozialdemokraten (mit Spaniens Pedro Sanchez) und Liberale (mit dem Niederländer Mark Rutte).
So hat es der EU-Gipfel vor zehn Tagen beschlossen – und damit das Verfahren an sich gerissen. Weil sich Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron nicht auf offener Bühne über den Nachfolger von Jean-Claude Juncker streiten wollten, wurden die sechs „Koordinatoren“ eingesetzt – eine Premiere.
Das neugewählte Europaparlament hat dem wenig entgegen zu setzen. Denn auch hier rangeln die(selben) Parteien um die Macht. Weil sich die Spitzenkandidaten gegenseitig im Weg stehen, hat das Parlament eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die ein Koalitionsprogramm ausarbeiten soll. Hier dürfen die Grünen mitmachen, die EU-kritischen Parteien aber nicht.
In 2014, Europeans learned the German word “SPITZENKANDIDAT”.
— Henrik Enderlein (@henrikenderlein) May 27, 2019
In 2019, Europeans will learn the German word “KOALITIONSVERTRAG” (coalition agreement).
Für die EU-Bürger, die sich zahlreicher denn je an der Wahl beteiligt haben, dürfte all das schwer verständlich sein. Schließlich hatte das Europaparlament doch versprochen, die Bürger könnten den nächsten Präsidenten der EU-Kommission selbst wählen – und den Kurs bestimmen. Stattdessen regieren nun erst einmal die Brüsseler Hinterzimmer.
Was bei den Koalitionsverhandlungen und dem Postengeschacher herauskommt, ist selbst für EU-Insider schwer abzusehen. Die sechs Regierungschefs tagen hinter verschlossenen Türen, die Presse ist nicht eingeladen. Auch im Europaparlament weiß niemand bescheid. „Alles Chefsache“, sagen sonst gut informierte Pressesprecher.
Nur einer wagt sich vor: der scheidende deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU). Er sieht gute Chancen, dass ein Deutscher gewinnt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Manfred Weber (CSU) der nächste Kommissionschef werde oder Bundesbankpräsident Jens Weidmann die EZB führe, liege bei 60 Prozent, sagte Oettinger.
Na, dann ist ja alles gut…
Siehe auch “Ist Weber schon abgeschrieben?” und “Wie man die Europawahl richtig bewertet”
Watchlist
- Bye, bye, Theresa May! Die vermutlich letzte Britin, die noch irgendwie an den EU-Austrittsvertrag glaubt, gibt am Freitag den Parteivorsitz bei den Tories ab. Sie wird bis Ende Juli auch als Regierungschefin ersetzt. Ihr Nachfolger könnte der Hardliner Boris Johnson werden. Der will UK bis Ende Oktober auf jeden Fall aus der EU führen – egal, ob mit oder ohne Abkommen. Brüssel dürfte May schon bald nachtrauern…
Was fehlt
- Das gesprochene Versprechen bei der Sommerzeit. Kurz vor der Europawahl hatte EU-Kommissionschef Juncker das baldige Ende der Sommerzeit angekündigt. Nun, kurz nach der Europawahl, ist gar kein Ende mehr absehbar. Es brauche noch eine intensive Debatte in den EU-Ländern, sagte die niederländische Infrastrukturministerin Cora van Nieuwenhuizen. “Anschließend sehen wir, wo wir stehen.” Mein Tipp: Nirgendwo.
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Peter Nemschak
10. Juni 2019 @ 12:04
@ebo Nachdem der europäische “Bundespräsident” ein nationaler Verschnitt in einer Person ist, der noch dazu nicht direkt gewählt wurde, läuft es nun einmal wie es läuft. Im Zweifelsfall, vor allem wenn es eng wird, halten sich die Bürger an den ihnen näheren Nationalstaat. Solange sich die Regierungschefs letztlich einigen können, wird die EU überleben.
Kleopatra
9. Juni 2019 @ 08:14
Dass die Regierungschefs (und nicht das Parlament) eine Person vorschlagen, steht so in den Verträgen. Den Wählern etwas anderes zu versprechen und auch noch zu behaupten, wenn das nicht so stattfände, sei das eine Katastrophe, ist fahrlässig und dumm.
In vielen parlamentarischen Demokratien wird der Regierungschef vom Staatsoberhaupt vorgeschlagen und vom Parlament nur bestätigt. Worin liegt das Problem? Etwa darin, dass di deutschen Wähler daran gewöhnt sind, dass große Parteien einen “Kanzlerkandidaten” präsentieren und manche nun meinen, das müssen beim Europaparlament auch wie in Deutschland laufen?
Peter Nemschak
10. Juni 2019 @ 09:08
@Holly01 Nachdem “Nichtwähler” freiwillig solche sind, müssen sie die Entscheidung der Wähler akzeptieren.
Holly01
10. Juni 2019 @ 10:24
Dafür haben wir doch das Gewaltmonopol des Staates……….
Also keine Diskussionen darüber was ich “muss” oder “darf”.
Diese Politik bekommt nur meine sehr widerwillige passive Duldung.
Wer auch immer mir etwas besseres biete ……….
Ansonsten wäre die pure Genugtuung dieses Pack fallen zu sehen auch schon eine Versuchung.
vlg
Peter Nemschak
10. Juni 2019 @ 09:18
In Österreich bestimmt der Bundespräsident aus freien Stücken einen Bundeskanzler, von dem er annimmt, dass er eine Mehrheit im Nationalrat finden und nicht sofort in einem Msstrauensvotum des Parlaments unterliegen wird. Die Rolle des Bundespräsidenten haben im Fall der EU die Regierungschefs. Nachdem die Prozeduren der Regierungsbildung in den Mitgliedsländern unterschiedlich sind, kann man davon ausgehen, dass die meisten Wähler gar nicht wissen, wie ein Kommissionspräsident zustande kommt. Die EU-Wahlen waren nichts anderes als ein Stimmungsbarometer für die politischen Stimmungen in den Mitgliedsländern. Daher werden sich die wenigsten aufregen, wenn sie nicht das bekommen, was ihnen versprochen wurde. Bei einer Umfrage wüssten die wenigsten, was ihnen überhaupt versprochen wurde – dual governance ist kompliziert.
ebo
10. Juni 2019 @ 10:39
Der Vergleich hinkt. Wenn wir den Vorgang auf Deutschland übertragen, dann wäre es so, als wenn die Ministerpräsidenten der Bundesländer darüber entscheiden, wer Bundeskanzler ist – und der Bundestag dürfte das dann nur noch absegnen. Nein, man kann einen Bundespräsidenten nicht mit den Regierungschefs gleichsetzen; er setzt nun einmal einen Bund voraus, den wir in der EU eben gerade nicht haben. Wenn überhaupt, dann fiele diese Rolle Ratspräsident Tusk zu. Doch der soll nicht nur einen, sondern gleich fünf Chefposten vergeben. Das heißt, dass die Wahl der Kommissionspräsidenten mit vier anderen Jobs vermengt wird. All dies lassen die EU-Verträge zu; man sage nur nicht, dies sei ein “parlamentarisches Verfahren” oder eine “Verfassungswerdung”. Ich nenne es Kungelei.
Peter Nemschak
9. Juni 2019 @ 07:26
@ebo Wie vielen Bürgern, Hand aufs Herz, ist es bewusst, dass sie den Präsidenten wählen ? Für die meisten, manche Intellektuelle ausgenommen, waren innenpolitische Anliegen, Zustimmung oder Protest, das ausschlaggebende Wahlmotiv.
Rudi Ehm
8. Juni 2019 @ 16:08
Der Chef wird nicht gewählt. so fängt es mal an. Der Chef wird bestimmt, klandestin in Besprechungszimmern und intriganten Telefonaten. So wie es Putin oder Salman ibn Abd al-Aziz machen. Das es höchstens fünf von 28 tun, macht es noch schlimmer da 23 noch nicht einmal piep sagen dürfen. Zum Glück bin ich nicht zur Wahl gegangen. Da schrieben sich die Gazetten die Finger über die letzte manipulierte Wahl der der DDR wund. Ja und die EU macht es noch schlauer. Sie baut Kulissen auf und lässt dem Bürger das Gefühl einer Wahl. 30 Jahre ist das letzte Kapitel des Wahlbetruges gerade her und wird schon verfeinert. Und die EU-Befürworter nennen sich Demokraten. Welt verkehrt.
ebo
8. Juni 2019 @ 18:50
Nein, der Chef wird nicht gewählt. Aber in der #EU wählen die Chefs ihre Präsidenten, und nicht – wie bei der Europawahl angekündigt – die Bürger. That’s the problem
Peter Nemschak
8. Juni 2019 @ 19:59
Man darf nicht vergessen, dass auch die Chefs demokratisch gewählte Politiker und ihren nationalen Parlamenten politisch verantwortlich sind. In der derzeitigen Verfasstheit der EU – sie ist kein Bundesstaat sondern ein Bund souveräner Staaten -darf man nichts anderes erwarten.
ebo
8. Juni 2019 @ 20:25
Das kann man so sehen. Doch das Europaparlament hat den Eindruck erweckt, die Bürger würden den Präsidenten der Kommission wählen. Dies war offenbar ein Schwindel – und führt dann zu neuen Enttäuschungen.
Holly01
9. Juni 2019 @ 09:33
Die Mehrheit der Nichtwähler, könnte nun durchaus darauf hinweisen, dass diese Legitimation eigentlich nicht gegeben ist.
Die “Politiker” würden auch erzählen morgen sind alle reich und jeder hat das Wetter das ihm/ihr gefällt oder das sie demnächst “Glück” in Flaschen abfüllen und an die Leute verteilen.
Wenn, ja wenn es nur weiter geht mit dem System das die ernährt und ihre Pensionen garantiert.
vlg
Peter Nemschak
7. Juni 2019 @ 07:49
Mittlerweile haben die meisten Bürger, die Schwierigkeiten bei der Zeitumstellung hatten, diese vergessen und genießen die langen Sommerabende, während die nationalen Politiker um die Posten in der EU schachern. So ist eben das derzeitige Governance-System der EU. der Handlungsdruck es zu ändern, ist gering.
Holly01
7. Juni 2019 @ 10:52
Vom Bildungsbetrieb über Hochschulen, bis zu Kindergärten, von Krankenhäusern über häusliche Pflege bis hin zur Tageskliniken, vom Lebensmittelbereich mit Großmärkten bis zum Kiosk an der Ecke, Bäcker, Schichtarbeiter und alles was “just in time” arbeitet, ich versichere Ihnen, NIEMAND vergisst die blöde Zeitumstellung.
Ich habe die Landwirtschaft mal extra separat genommen. Die Melkzeiten sind ja allen geläufig.
Diese Lässigkeit mit der Sie Bedenken wegwischen und relativieren macht sie fast zu einem politischen Menschen. Dieser Menschenschlag verteilt fremdes Fell auch immer ganz lässig und “unaufgeregt”. Kein Problem, es ist ja nicht Ihr Fell. Wann öffnen Bankschalter?
Sehen Sie. Die Mittagspause die Sie ganz selbstverständlich haben, haben sonst nur noch Ärzte.
Aber mal lässig daher reden … ja schon ziemlich nah an politischer Argumentation…
vlg
Peter Nemschak
7. Juni 2019 @ 12:58
Die meisten heutigen Bankschalter sind Maschinen, die rund um die Uhr geöffnet haben. Im übrigen gilt die Zeitumstellung auch für die mit Menschen besetzten Bankschalter. Die Kühe kann man schrittweise an die durch Zeitumstellung geänderten Melkzeiten anpassen. Flexibilität ist sichtlich nicht jedermanns Sache aber hilfreich in unserer Gesellschaft.