Erst die Bürger, nun die Eliten: Der Europa-Konsens ist futsch
Die Europa-Union, das Delors-Institut und viele andere haben das Vertragsverletzungs-Verfahren gegen Deutschland begrüßt. Dabei ist es ein Alarmsignal: Der Konsens über die Europapolitik ist futsch. Nach den Bürgern zweifeln nun auch die Eliten – und sogar tragende Institutionen.
„Es ist gut, dass die EU-Kommission Deutschland verklagt. Denn es bedarf dringend einer Klärung durch das höchste europäische Gericht, wer in der EU in der Auslegung der Verträge das letzte Wort hat. Das kann nur der Gerichtshof der Europäischen Union sein und kein nationales Verfassungsgericht.”
Mit diesen Worten begrüßt die deutsche Europa-Union das Verfahren. Sie fordert, das Bundesverfassungsgericht in die Schranken zu weisen, damit Polen und Ungarn nicht etwa Deutschland nacheifern – und EuGH-Entscheidungen ebenfalls infrage stellen. Eine problematische Argumentation.
Denn natürlich darf man auch Entscheidungen des höchsten EU-Gerichts anzweifeln. Dies ist sogar dringend geboten, da der EuGH seit seiner Gründung dazu neigt, den Binnenmarkt zu verabsolutieren und die Kompetenzen der EU (und und damit auch seine eigenen) immer mehr auszuweiten.
Wenn sich das höchste EU-Gericht auf eine Verfassung und den politischen Willen eines Souveräns stützen könnte, wäre dies hinnehmbar. Doch die EU ist kein Staat, die EU-Verfassung ist in zwei Volksabstimmungen gescheitert, und einen europäischen Souverän haben wir auch (noch) nicht.
Solange die Souveränität nur geliehen ist, wird es einen Streit über die Frage geben, ob die EU ihre Kompetenzen überschreitet. Und für die Beurteilung der Frage, welche Kompetenzen ein Staat an die EU abgegeben hat, und welche nicht, sind natürlich auch nationale Gerichte zuständig.
Mein Punkt ist jedoch ein anderer. Das Verfahren gegen Deutschland zeigt, dass der Konsens über EUropa zerbrochen ist. Nunmehr ist sogar der bisher unbestrittene Kern umstritten – das Recht. Institutionen wie die EU-Kommission und die Bundesregierung oder der EuGH und Karlsruhe ringen miteinander.
Die EU-Kommission – eine nicht gewählte Behörde – fordert die gewählte Bundesregierung auf, das Bundesverfassungsgericht in die Schranken zu weisen und sich dem Europäischen Gerichtshof unterzuordnen, der seine Legitimität und Legalität nur aus der Übertragung von Souveränität bezieht.
Dieselbe EU-Kommission wird aber just in diesem Moment vom gewählten EU-Parlament bezichtigt, bei der Verteidigung des Rechtsstaats zu versagen – und mit einer Untätigkeitsklage vor dem EuGH bedroht
! Hier ist ein Machtkampf zwischen den europäischen Eliten entbrannt, der die EU von innen heraus zerstören könnte.
Gelöst werden kann er, das ist meine feste Überzeugung, nicht juristisch, sondern nur politisch. Die ungelöste Frage nach der europäischen Verfassung muß wieder auf den Tisch – und damit auch die Frage nach dem Souverän. Mit einer “Konferenz zur Zukunft der EU” und ein paar Bürgerkonferenzen ist es nicht getan…
Siehe auch “Machtkampf Berlin-Brüssel” und Wird Deutschland euroskeptisch?
Kleopatra
11. Juni 2021 @ 08:52
Konflikte, bei denen das Prinzip “Bundesrecht bricht Landesrecht” angewandt wird, setzen einen Bundesstaat voraus, aus dem die Teilstaaten nicht austreten können. (Vgl. BRD: auch einfache Bundesgesetze haben Vorrang vor den Landesverfassungen). Die EU ist aber ein Bund, aus dem ihre Mitglieder austreten können, und wie wir gesehen haben, steht dieses Recht nicht nur auf dem Papier. Ein Mitgliedstaat, der zu dem Ergebnis kommt, dass es für ihn Prinzipien gibt, die wichtiger sind als die EU-Mitgliedschaft, hat also immer die Option des Austritts.* Deshalb ist der Versuch der Kommission brandgefährlich, denn ein Frontalzusammenstoß zwischen den EU-Institutionen und dem größten Mitgliedstaat wird vor allem die EU beschädigen. Und falls es z.B. zu einem Urteil gegen Deutschland käme, das vom BVerfG einfach ignoriert würde (und ignoriert werden müsste), würde auch der EuGH als Papiertiger dastehen.
Das Vertragsverletzungsverfahren ist auch deshalb fraglich, weil kaum eine Möglichkeit denkbar ist, wie die deutsche Regierung den Forderungen der Kommission nachkommen könnte. Weder kann sie dem BVerfG Anweisungen erteilen, wie es zu urteilen hätte, noch sich verpflichten, Urteile, die der Kommission nicht passen, zu ignorieren. Und ob eine Verfassungsänderung, durch die das BVerfG dem EuGH untergeordnet würde, a) eine Mehrheit finden würde und b) nicht als inhärent verfassungswidrige Initiative vom BVerfG gleich wieder kassiert würde, ist auch sehr fraglich, abgesehen davon, dass wohl auch kein anderer Mitgliedstaat das Europarecht ausdrücklich über die eigene Verfassung stellt.
*NB: Bis zum Vertrag von Lissabon war es umstritten, ob ein Recht zum einseitig erklärten Austritt aus der EU existiert. Seit jenem ist es ausdrücklich anerkannt.
ebo
11. Juni 2021 @ 09:35
Mein Eindruck ist zunehmend, dass das Verfahren gegen Deutschland nicht ernst gemeint ist. Die Kommission klagt nur, damit sie später mit den neuen Rechtsstaats-Instrumenten gegen Polen, Ungarn und andere vorgehen kann. Würde sie nichts tun, so würden diese Staaten sich auf Deutschland berufen – es hat ja schon angefangen