Machtkampf Berlin-Brüssel, Klage gegen die Kommission – und ein neuer Sozialfonds

Die Watchlist EUropa vom 10. Juni 2021 –

Die EU-Kommission legt sich mit Deutschland an. Wie die Behörde am Mittwoch in Brüssel mitteilte, geht sie “wegen der Verletzung grundlegender Prinzipien des EU-Rechts” gegen das größte EU-Land vor. Dazu wurde ein so genanntes Vertragsverletzungs-Verfahren eingeleitet. Es kann in einer Klage gegen Deutschland und in hohen Strafen münden.

Auslöser des Streits war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den umstrittenen Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank. Die Richter hatten auch die Position des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hinterfragt. Im Kern geht es nun um die Frage, wer das letzte Wort hat: Der EuGH in Luxemburg oder die Roten Roben in Karlsruhe.

“Alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind bindend für die Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der nationalen Gerichte”, sagte ein Kommissionssprecher. Das Bundesverfassungsgericht habe einem früheren EuGH-Urteil “die Rechtswirkung in Deutschland entzogen und gegen den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts verstoßen“.

“Europa à la carte”

Dies will die Brüsseler Behörde, die sich als Hüterin der EU-Verträge versteht, nicht hinnehmen. Wenn ein Land anfange, die Urteile des höchsten EU-Gerichts infrage zu stellen, dann könne die zu einem „Europa à la carte“ führen, sagte der Sprecher. Man sei deshalb auch schon gegen Frankreich, Italien und Spanien vorgegangen.

Allerdings ist unklar, was Deutschland tun kann, um den Konflikt zu lösen. Das Bundesverfassungsgericht ist unabhängig; seinen Urteilen beugt sich sogar die Bundesregierung. In Berlin gilt es als undenkbar, dass die Politik dem Gericht Vorgaben macht. Das strittige Urteil ungeschehen machen kann sie auch nicht – selbst wenn sie es wollte.

Deutschland hat nun zwei Monate Zeit, um auf die Kritik zu reagieren. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, das Mahnschreiben der Kommission sei angekommen. “Wir werden uns die Bedenken genau anschauen und – wie es das Verfahren vorsieht – darauf schriftlich reagieren“. Wie eine Lösung des Streits aussehen könnte, ließ er offen.

Kritische Phase

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Ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums erklärte, aus Sicht der Bundesregierung sei “ein gutes Kooperationsverhältnis zwischen den Gerichten wichtig“. In dem strittigen Fall haben Karlsruhe und Luxemburg jedoch aneinander vorbei geredet. Das Bundesverfassungsgericht warf dem EuGH sogar vor, den Anleihekauf der EZB nur oberflächlich geprüft zu haben.

Der Machtkampf kommt für die EU-Kommission zu einer kritischen Zeit. Die Brüsseler Behörde hat ihre Befugnisse erst kürzlich massiv ausgeweitet – mit dem 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds, der erstmals in großem Stil mit EU-Schulden finanziert wird. Offenbar fürchtet man in Brüssel, auch dagegen könne Karlsruhe vorgehen.

Zudem hat die EU den Stabilitätspakt für den Euro ausgesetzt, um eine expansive Fiskalpolitik zu ermöglichen. Auch dies könnten deutsche Richter beanstanden. Sollte es darüber zum Streit zwischen Karlsruhe und Luxemburg kommen, so wäre die gesamte EU-Strategie für den Wiederaufbau nach der Coronakrise gefährdet.

Das Bundesverfassungsgericht ist eine wichtige Säule im “deutschen EUropa”. Unter Verweis auf die roten Roben konnte Kanzlerin Merkel immer wieder unerwünschte Vorstöße anderer Länder abwehren. Die große Frage ist nun, wie es nach der Bundestagswahl (und Merkels Abgang) weiter geht…

Siehe auch “Frust beim Wiederaufbau”

Watchlist

Stimmen CDU und CSU im Europaparlament für eine Untätigkeitsklage gegen EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen (CDU)? Dies dürfte sich am Donnerstag zeigen, wenn die Abstimmungergebnisse aus Straßburg erwartet werden. Die Christdemokraten hatten sich im Streit um den Rechtsstaat lange gegen eine Rüge für ihre Parteifreundin gesträubt. Als sich eine Mehrheit ohne sie formierte, verhandelten CDU/CSU aber noch eine zweiwöchige Schonfrist in die Klage hinein. In der Praxis würde das Verfahren damit wohl erst anlaufen, wenn von der Leyen im Herbst aktiv wird – wie mit Kanzlerin Merkel und Ungarns Regierungschef Orban abgesprochen… – Mehr hier

Was fehlt

Der neue Klima-Sozialfonds, den Klimakommissar Frans Timmermans aus dem Hut gezaubert hat. Mit Blick auf die Kosten des Klimaschutzes beim Heizen und Autofahren erwägt die EU-Kommission einen eigenen Sozialfonds. Dies kündigte Timmermans am Mittwoch in einer Rede an. Hintergrund sind Erwägungen, den Energieverbrauch in Gebäuden und im Verkehr europaweit mit einem CO2-Preis zu belegen. Dies würde Autofahren und Heizen teurer machen. In Deutschland führt das schon zu Streit und Wahlkampf-Manövern. Wohl auch deshalb verspricht der Sozialdemokrat Timmermans jetzt schon mal Finanzspritzen aus Brüssel… – Mehr hier