EUropa läuft auf Sparflamme, wenn überhaupt
Die Coronakrise dämpft die Arbeitskapazität in Brüssel um 70 Prozent. Aber auch Nationalismus und Egoismus bremsen die EU-Politik immer mehr aus. Darunter leidet auch der Wiederaufbau.
Wie stark wird die Europapolitik von der Coronakrise erschüttert? Bisher gab es nur vage Schätzungen. Doch nun wagt sich der deutsche EU-Botschafter Clauß vor: In Brüssel sei derzeit nur 30 Prozent der normalen Arbeitskapazität verfügbar, sagte er in einer Debatte. Schuld sind technische Beschränkungen: Video killed the EUrope star!
Besserung ist nicht in Sicht. Denn die Kapazitäten für Videokonferenzen sind begrenzt – und das, obwohl der Rat, also die Vertretung der 27 Mitgliedsländer, über zwei Gebäude verfügt, “Justus Lipsius” und “Europa” (das mit dem Ei in der Glashülle).
Der deutsche EU-Vorsitz im 2. Halbjahr müsse daher seine Ambitionen herunterschrauben, so Clauß. Denn leibhaftige Begegnungen, also “echte” Ministerräte und EU-Gipfel, könnten erst im Sommer, vielleicht sogar erst im Herbst wieder möglich sein.
Videokonferenzen sind jedoch längst nicht so produktiv wie persönliche Treffen – Clauß schätzt ihre Effizienz auf gerade mal 20 Prozent. Was fehlt, ist das persönliche Gespräch am Rande, bei dem oft Kompromisse geschmiedet werden.
In Wahrheit dürfte der Kollateralschaden durch die Krise aber noch weit größer. Corona trifft ja nicht nur den EU-Betrieb in Brüssel, sondern auch die zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Und die ist auch schlechter geworden.
Seit die Grenzen geschlossen sind und Reisen nach Brüssel ausfallen, grassiert in den Hauptstädten wieder das Virus des Nationalismus und Egoismus, wie Ex-Kommissionschef Jacques Delors bitter anmerkte. Es hat große Schäden angerichtet.
Immer mehr Fraktionen und Friktionen
So haben sich die Spaltungen in der EU vertieft und die Gruppenbildung verstärkt. Wir haben jetzt nicht mehr nur Visegrad, Hanseatische Liga und die “Frugal Four”. Wir haben auch die Staaten, die gut durch die Krise gekommen sind – und die anderen.
Dies führt zu neuen Friktionen und Fraktionen. Im Streit um das EU-Budget und den “Recovery Fund” gibt es Anhänger und Gegner einer EU-Verschuldung, es gibt Südeuropäer, die alles für “Recovery” wollen – und Osteuropäer, die auf das Budget setzen.
Die Folge: Die EU-Kommission mußte ihren Budget-Entwurf bereits zum dritten Mal verschieben. Denn der Streit tobt hinter den Kulissen heftiger denn je – und Behördenchefin von der Leyen wagt es einfach nicht, mutig voranzugehen …
Siehe auch “Schwach, schwächer, von der Leyen”
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Watchlist
Findet die EU eine gemeinsame Antwort auf die nahende Annexion der Westbank durch Israel? Oder steht sie blank da, wie dies Luxemburgs Außenminister Asselborn schon seit Wochen fürchtet? Dies dürfte die Videorunde der Außenminister am Freitag zeigen. Deutschland ist übrigens weiterhin auf der Seite derjenigen, die Sanktionen ablehnen… – Mehr hier
Was fehlt
Die Hexenjagd in der EU-Kommission. Nach Darstellung von “Politico” fahndet die Brüsseler Behörde fieberhaft nach den Verantwortlichen für “Leaks”, die in der letzten Zeit immer öfter auftreten. Chefsprecher Mamer bestätigte, dass eine verwaltungsinterne Untersuchung eingeleitet wurde. Seine Chefin von der Leyen scheint panische Angst vor Whistleblowern zu haben…
Das Letzte
Gerade einmal zehn Tage ist es her, dass die EU den Anspruch erhob, einen Impfstoff gegen COVID-19 für die ganze Welt zu entwickeln. Doch nun muss sie ohnmächtig zusehen, wie der französische Sanofi-Konzern ankündigt, zuerst die USA beliefern zu wollen. Notfalls müsse man den Zugang zum Impfstoff über Zwangslizenzen garantieren, heißt es nun im Europaparlament. Viel Spaß mit Donald Trump… – Mehr zum Wettlauf um den Impfstoff hier
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Immer locker bleiben
15. Mai 2020 @ 15:23
Ich sag mal so: Innerhalb und außerhalb der EU-Institutionen sind wir alle zu 100% Teleworker/innen geworden. Wir sind jetzt Expert/innen in Zoom, Webex, Skye und was es sonst noch gibt. Manchmal sind wir auch produktiver, aber die Dialoge, die es braucht, um es auch zu bleiben, die sind so nicht möglich. Es wird langsam Zeit, dass wir an unsere Arbeitsplätze zurückkehren und nach Feierabend das Bier auch mal wieder gemeinsam trinken. (Wenn die Kinder wieder in die Schule gingen – wenigstens für einen Monat vor den Ferien – wäre das auch nicht schlecht.) Hinweis an Kleopatra, Verdolmetschung ist im Moment eher die Ausnahme. Vieles findet nur auf englisch statt. Bei Webex ist die Ansteckungsgefahr begrenzt auch bei den Risikogruppen.
Kleopatra
15. Mai 2020 @ 08:26
Ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit meint man da zu sehen, wenn auch die Großkopfeten am eigenen Leib erfahren, wie sehr die von ihnen nachgebeteten Empfehlungen für “social distancing” o.ä. normale menschliche Aktivitäten unmöglich machen. Nicht nur Schulunterricht und Kleinkinderbetreuung, Sport, Kultur und Gastronomie, praktisch jede Arbeit in Landwirtschaft und produzierendem Gewerbe, sondern auch Politik sind allesamt mit der Illusion von konsequent einzuhaltenden ein, anderthalb, zwei Metern Abstand zwischen zwei Menschen nicht machbar. Bisher haben das aber die Politiker nicht zu spüren bekommen. Eine Gesellschaft kann nun einmal nicht alle Kraft darauf fokussieren, ein einziges – im konreten Fall noch nicht einmal besonders hohes – Risiko zu minimieren und alle anderen Gesichtspunkte zu ignorieren. Warum geht man in dieser Hinsicht mit Politikern (die ihren Beruf schließlich freiwillig gewählt haben) nicht genauso lässig um wie mit rumänischen Erntehelfern und polnischen Altenpflegerinnen, bei denen niemand zu genau hinsehen will, wie nahe sie anderen Menschen kommen? (Der Dolmetschdienst hingegen kann ohne körperliche Nähe zu Politikern arbeiten; es muss lediglich darauf geachtet werden, dass möglichst immer dieselben Kollegen zusammen eine Kabine besetzen).
ebo
15. Mai 2020 @ 09:15
Gute Frage. Ich habe hier in Brüssel mal vorsichtig nachgefragt, warum die Europaabgeordneten nicht endlich zurück kommen – und gleich einen Shitstorm geerntet. Die Politiker halten sich offenbar für zu wichtig, um wieder die normale Arbeit aufzunehmen. Aus dem “social distancing” wird so ein “political distancing” – und das Europaparlament ist gelähmt…
Kleopatra
15. Mai 2020 @ 09:42
Man will offenbar auch als Politiker “ein Vorbild sein” und sich, solange man gesehen wird, keinem lebenden Menschen mehr als auf zwei Meter Abstand nähern. So hofft man, die Alarmstimmung in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten; aber so funktioniert Kommunikation nicht. Ein Parlament, dessen Abgeordnete sich voneinander distanzieren, degeneriert zur bloßen Abstimmungs- und Legitimationsmaschine.
Interessant fände ich, ob irgendjemand schon darauf gekommen ist, dass die Empfehlungen zur körperlichen Distanz bei strikter Befolgung die Durchführung von Simultandolmetschungen im Grund unmöglich machen (da dann Kabinen nicht mit zwei Personen besetzt werden könnten und ohnehin die Zusammenarbeit Nähe zueinander erfordert), und dass dann eigentlich die Verdolmetschung ausgesetzt werden müsste?
Holly01
15. Mai 2020 @ 07:25
” Findet die EU eine gemeinsame Antwort auf die nahende Annexion der Westbank durch Israel? Oder steht sie blank da, wie dies Luxemburgs Außenminister Asselborn schon seit Wochen fürchtet? Dies dürfte die Videorunde der Außenminister am Freitag zeigen. Deutschland ist übrigens weiterhin auf der Seite derjenigen, die Sanktionen ablehnen… ”
Das Deutschland in einer zentralen Frage GEGEN Israel steht, finde ich sehr unglaubwürdig …
vlg