Schwach, schwächer, von der Leyen
Ist Ursula die Richtige? Nach der No-Show bei Schengen und beim Streit ums Europarecht wachsen die Zweifel an der deutschen Kommissionspräsidentin.
Wo war von der Leyen? Diese Frage stellten sich viele, als die EU–Kommission am Mittwoch ihre Pläne für den Sommerurlaub vorstellte. Bisher hat sie sich immer in die erste Reihe gedrängt, diesmal schob sie andere vor. Das muß kein schlechtes Zeichen sein, die mediale Präsenz der Kommissionschefin ist ohnehin nah an der Überdosis. Doch manch einer fragt sich, warum vdL die Gelegenheit nicht genutzt hat, den EU-Chefs die Leviten zu lesen.
Sie hätte die Öffnung der Schengen-Grenzen fordern können, so wie Ratspräsident Michel. Sie hätte ein Ultimatum formulieren können, so wie ihr Parteifreund D. Caspary. Sie hätte sogar mit EU-Verfahren drohen können.
Nichts davon hat sie gewagt. Das wird ihr nun als Schwäche ausgelegt – genau wie ihr Zögern beim EU-Budget, das schon zwei Wochen überfällig ist. Oder die No-Show beim Asylrecht, das eigentlich im April reformiert werden sollte.
The chaos in the Union has to stop! We need a uniform decision by the Commission to reopen internal borders + uniform security & health measures in the whole Schengen area. Vague “recommendations” will only be applied in different ways by the member states https://t.co/7ac1LGSXZI
— Guy Verhofstadt (@guyverhofstadt) May 14, 2020
Ihr Amtsvorgänger Juncker hätte nicht gezögert und auf das “Go” der Staatschefs gewartet, unken manche. Von der Leyen sei ihrem Job nicht gewachsen, sagen andere. Zuletzt hat sogar “Bloomberg” die Zweifel genährt.
“EU Officials Ask If They Have the Wrong Person Running the Show” hieß die Geschichte, die am Montag lief, kurz nach dem Debakel um das Bundesverfassungsgericht, den EuGH und das Europarecht.
Auch da mußte von der Leyen zum Jagen getragen werden – der grüne Europaabgeordnete S. Giegold zwang sie mit einem offenen Brief zum Handeln und einem (möglichen) EU-Verfahren gegen Deutschland. Auch das spricht nicht für Führungsstärke.
Die große Frage ist jedoch, ob das ein Problem ist – oder genauso gewollt wurde. Von der Leyens Schwäche sei “ein Feature, kein Fehler”, schreibt Bloomberg – die EU-Chefs hätten eine schwache Kommission gewollt, um selbst den Ton anzugeben.
Da ist was dran, sie hätten ja auch die erfahrene Dänin Vestager nehmen können, um ein Beispiel zu nennen. Das Problem ist nur, dass nun auch die Chefs geschwächt sind – durch ihr kollektives Versagen in der Coronakrise.
Vor allem Frankreichs Staatschef Macron ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Dabei war er es, der von der Leyen aus dem Hut gezaubert hatte, um seine Macht zu mehren. Aber auch Kanzlerin Merkel ist nicht zu beneiden.
Merkel steht zwar vergleichsweise glänzend da. Doch bald schon muß sie, als EU-Ratspräsidentin, die Scherben zusammenkehren, die Corona und eine allzu schwache Kommission hinterlassen haben.
Dabei kann sie eigentlich nur verlieren…
Siehe auch “Eine neue Phase der Eurosklerose” und “Jetzt wird es ernst, auch für Merkel” sowie den Gastbeitrag “Schöne Reden sind nicht genug”
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Watchlist
Was ist eigentlich aus der Tracking-App für bzw. gegen Corona geworden? Darüber wollen am Donnerstag die Europaabgeordneten diskutieren. Sie sprechen auch über den Engpass bei Medikamenten und über über die umstrittenen Notstandsgesetze in Ungarn. Leider nur per Videokonferenz – die Parlamentarier trauen sich immer noch nicht nach Brüssel…
Was fehlt
Die Warnung vor “Konsumnationalismus”. Ausgerechnet Agrarministerin Klöckner will eine Ausweitung der europäischen Corona-Hilfen für Landwirtschaft und Fischerei an die Entwicklung auf den Märkten knüpfen. Geld soll nur bekommen, wer (auch) aus deutschen Landen ißt – hat sie schon die Skandale um deutsches Fleisch und die Schlachthöfe vergessen?
Das Letzte
Ist COVID-19 doch nicht so gefährlich? Das fragen keine Verschwörungstheoretiker, sondern die EU-Staaten. Am Donnerstag wollen sie hinter verschlossenen Türen über die Einstufung des Virus beraten. Die EU-Kommisson will es nur auf die zweithöchste Warnstufe setzen, die Gewerkschaften warnen vor Gefahren für Arbeitnehmer. Mehr hier (externer Link)
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Immer locker bleiben
15. Mai 2020 @ 10:10
Sehr geehrte Kleopatra, soweit es die Beschreibung der sozialen Lage osteuropäischer Arbeitnehmer angeht, gebe ich Ihnen vollkommen Recht. Was auf jeden Fall nicht geht, dass EU-Bürger zu schlechteren Bedingungen beschäftigt werden als inländische Arbeitnehmer. Das liegt aber auch daran, dass wir in Deutschland nicht bereit sind, die von Ihnen beschriebenen Arbeiten mit zumindest einem Mindestlohn bzw. Tariflohn zu entlohnen. Mit anderen Worten, die große Mehrheit der Inländer profitiert doch von relativ billigem Spargel, Fleisch etc. und niedrigen Beiträgen zur Pflegeversicherung. Gleichzeitig haben diese ausländischen Arbeitnehmer/innen kein Wahlrecht, zahlen aber Steuern und Sozialversicherung. Das sind mittlerweile über 10% der Wählerschaft, die sich nicht mit ihrer Stimme wehren können und das wissen die Politiker auch. Mit anderen Worten wir müssen selber für bessere Entlohnung und Arbeitsbedingungen sorgen. Das finktioniert aber nur, wenn man für einen Mindestlohn von 12 Euro engagiert oder noch besser Gewerkschaftsmitglied wird und sich für bessere Tarifverträge einsetzt. (Es rettet uns kein höheres Wesen, auch nicht die von mir sehr geschätzte Bundeskanzlerin.)
Gleichwohl, ein “Wahlrecht für Alle” überall in Europa, wo die Menschen dauerhaft leben und arbeiten wäre schon mal ein guter Anfang.
Kleopatra
14. Mai 2020 @ 08:06
Kann Merkel nur verlieren? Was als “Verlieren” gilt, ist noch sehr die Frage! Gegenwärtig wird doch wieder die deutsche Dominanz in der EU noch ungenierter ausgespielt als in ruhigen Zeiten. Die eigenen Bürger sollen bitteschön im Inland bleiben (Außenminister Maas), aber als Polen seine Bürger daran hindern wollte, zur Arbeit als Altenpflegerin nach Berlin zu fahren, schrien deutsche Politiker Zeter und Mordio. Das Zentralland zeigt völlig ungeniert, dass der Lebenszweck der Osteuropäer darin gesehen wird, zu Bedingungen, die sich kein sozialversicherter Deutscher bieten lassen würde, für Deutsche Spargel zu stechen, Rinder und Schweine zu zerlegen und Alte zu pflegen. Es hat sich ein Verhältnis wie zwischen Zentrum und Peripherie eingeschlichen, bei dem die Peripherie vor allem die Aufgabe hat, das Zentrum mit Billig-Arbeitskräften für niedrige Aufgaben zu versorgen. Und da “Unionsbürger” zum Deutschen Bundestag nicht wahlberechtigt sind, wird sich das Engagement zu Gunsten dieser Wanderarbeiter auch bei den linken und “linken” Parteien in Deutschland sehr in Grenzen halten.
Und ein großer Teil der deutschen Presse bejubelt die Weisheit der Kanzlerin und überhaupt alles am deutschen Staat. Der Nationalismus-Reflex ist zwar eine natürliche und zu erwartende Reaktion in Zeiten der Krise und Unsicherheit, aber wirklich kritische Geister sollten sich das bewusst machen und sich von dem Reflex frei machen.