Gegen 1989
Deutschland feiert sich und seine Einheit mit einer großen Show in Brüssel. Doch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung sind viele Hoffnungen zerstoben. Der Trend läuft gegen 1989, durch EUropa laufen neue Bruchlinien.
Damit meine ich nicht allein, dass Ungarn, Polen, Tschechen und Slowaken – also die Freiheitshelden von ’89 – heute neue Mauern hochziehen und einen antiliberalen Ostblock bilden.
Der Streit um die Flüchtlingspolitik ist nur das jüngste Zeichen für eine Trendwende. Die Gegenbewegung zeigt sich auch und schon länger in der Außen- und Sicherheitspolitik ab.
Vor etwas mehr als einem Jahr hat ein neuer Kalter Krieg begonnen, der ’89 ein für allemal überwunden geglaubt war. Die Rede ist vom geopolitischen Ringen zwischen Russland, der EU und den USA.
Dabei geht es nur vordergründig um die Ukraine oder um Syrien. Es geht darum, dass die schöne neue Welt des globalen demokratischen Kapitalismus, die uns ’89 verheißen wurde, an ihre Grenzen stößt.
Das zeigt sich nicht nur in Russland oder China, sondern auch im Irak, in Libyen oder in Syrien, wo die mehr oder weniger freiwillige “Demokratisierung” gescheitert ist.
Und es zeigt sich nun auch in EUropa, wo die Bruchlinien mitten durch den Kontinent und sogar durch die Länder und Gesellschaften gehen. Auch Deutschland könnte es zerreißen.
Die Geschichte ist mit Macht zurück gekehrt – aber ganz anders, als es sich Fukuyama, Kagan und ihre “neuen Europäer” gedacht haben. 25 Jahre nach 1990 gibt es wenig Grund zum Feiern…
Andreas
5. Oktober 2015 @ 10:08
Hier möchte ich noch ergänzen: Schnurgerade in deMaizeire (lies: die Misere), stand 1990 an einem Berliner Haus in großen Lettern. Es war keine Vereinigung, sondern ein Anschluss (zu den Bedingungen des “Siegers”, wehe den Siegern). Die makroökonomische Steuerung dieses Prozesses war/ ist ein Desaster. Die philosophische Grundierung (Staatsrecht usw.) in Form einer gemeinsamen Verfassung wurde vermieden. Es gab nie eine Staatsräson, die wenigstens preußischer Vernunft, die ja ein wenig in der DDR überlebt hatte, und die auch den Widerstand der Eliten gegen Hitler speiste, zur Geltung verhalf. Eine Wiedervereinigung gab es auf persönlicher Ebene und in der organisierten Kriminalität. Auch Grönemeyer sang schon gesamtdeutsch: wascht ihr nur eure Autos. Zudem wurde vollkommen ignoriert, dass es nur eine ostdeutsche Generation gab/ gibt, das waren jene um 1949 Geborene. Es gibt nur relativ wenig Ostdeutsche. Jene Generation, die schon für Hitlerdeutschland kämpfte usw., kam nach 1989 gar nicht mehr zur Sprache. Die setzte einfach ihr Schweigen darüber fort mit einem Schweigen über die DDR. Es gab praktisch kein Zimmer mehr, in dem diese Menschen über etwas von Belang miteinander redeten (siehe “Extrem laut und unfassbar nah, Jonathan Foer, sowie Die zweite Schuld). Diese Psychologie wurde mit dem Jammerossi kompromittiert, das Schweigen geht weiter in den nächsten Generationen. Kein Ostdeutscher (jetzt im allgemeinen Sinne) ist mit Worten zu beeindrucken, bevor nicht dieses Schweigen zur Sprache gekommen ist. Es ist ganz gleich, was Gauck faselt, das interessiert einfach nicht, das erreicht die ostdeutsche Versteinerung nicht mehr. Auch Merkel versteht man ohne dieses Schweigen überhaupt nicht, sie kann auf dieser ihrer persönlichen Versteinerung keine eigene politische Linie entwickeln. Sie ist sich selbst als Mensch unfassbar (und daher als Funktionalität sehr effizient. Es kommt aber auf Effektivität an…). Da hilft auch ein §1 GG nicht, das ist lächerlich. Was für eine Scheiß-Würde soll das sein, was für eine Verfassung, die gilt doch für mich gar nicht, das ist nur Papier? Deswegen wird der Ostdeutsche das GG nicht brechen, er versteht nur deren Anspruch für sich persönlich nicht. Hemingway schrieb einmal: “Es war nicht so sehr, dass er log, es gab nur keine Wahrheit, die es lohnte ausgesprochen zu werden”. Dieses elende Nicht-Leben findet sich bei Kafka u.a. besser beschrieben. Brecht steht dagegen in der Tradition der Worte, das sagt uns nichts mehr. Wir sind Spürhunde des Nihilismus in einem sehr konkreten Sinn. Es ist also nicht verwunderlich, wenn die Ostdeutschen sehr weit zurück nach Traditionen suchen, um sich zu artikulieren. Sie müssen entweder durch das Schweigen hindurch oder sie müssen vor das Schweigen gehen, für irgendeinen nicht-nihilistischen common sense. Feiern wir also diese Leere. Vielleicht mit der Lektüre von Arno Gruen.
cource
3. Oktober 2015 @ 14:45
die, die von dem system profitieren werden alles tun um es zu erhalten selbst wenn sie ihr letztes hemd dafür hergeben müssten, weil der glaube an den eigenen vorteil stärker ist als die schäbige realität–sie glauben einfach nicht was sie sehen–das ist die besondere fähigkeit des menschen
Nemschak
3. Oktober 2015 @ 13:07
Illusionen und unbegründete Hoffnungen sind zerstoben. Was ist globaler demokratischer Kapitalismus? Das sind Schlagworte wie Star Wars oder War against Terror und könnten aus einem amerikanischen Marketingratgeber stammen. Normalität ist zurückgekehrt, was eher beruhigend als beunruhigend sein sollte. Immerhin ist die menschliche Art seit ihrem Bestehen mit Normalität zurecht gekommen und hat sich dabei zahlenmäßig stark vermehrt. Man sollte den Vorhersagen jener, welche den Gang der Geschichte zu kennen meinen und glauben, ewige Gesetze entdeckt zu haben, egal ob Nostradamus, Malthus, Marx, Fukuyama oder Piketty mit einem gerüttelten Maß an Skepsis begegnen. Gäbe es eine objektive Wahrheit, gäbe es nicht so viele unterschiedliche Diskurse zum selben Thema.
ebo
3. Oktober 2015 @ 13:55
Genau, eine gesunde Dosis Realismus kann nicht schaden! Dennoch: Merkel, Blair und EU-Barroso waren auf Seiten der Fukuyamas und Kagans, das sollten wir nicht vergessen!
Nemschak
3. Oktober 2015 @ 16:31
Dann sollten wir diese Leute behalten, damit das Lehrgeld nicht verloren ist.
OXIgen
3. Oktober 2015 @ 11:36
Ja, ebo, so ist es. Es gibt wenig bis gar nichts zu feiern. Das Märchen vom “globalen demokratischen Kapitalismus” ist schon lange aus erzählt. Einen demokratischen Kapitalismus gibt es nicht und gab es niemals, er wäre ein Widerspruch in sich. Es könnte allenfalls eine kapitalistische Demokratie geben, wenn der Kapitalismus tatsächlicher demokratischer Kontrolle unterworfen wäre. Das herrschende globale Raubrittertum des Finanzkapitals ist jedoch aus dem alten, totgeglaubten Feudalismus wieder auferstanden und gieriger und brutaler als je zuvor.
Falls du mit “Der Trend läuft gegen 1989” zunehmende Resignation, Frustration und Wut meinst, kann ich dir beipflichten. Das Umdenken, das auf globaler Ebene dringend nötig wäre, um die Akzeleration der Ressourcen-Vernichtung und der damit verbundenen Verteilungskämpfe wirksam aufzuhalten, wird noch lange auf sich warten lassen. Solange man selbst den prekarisierten Massen noch ein Wellness-Wunderland vorgaukeln kann, geht die Light-Show weiter.
Andreas
3. Oktober 2015 @ 10:12
Irrae humanum est, so der Skeptiker. Fukuyama war so teleologisch wie der vielgeschmähte Karl M. Enttäuschte Projektionen. Die 50 Bürgerrechtler in ffm sitzen in der ersten Reihe wie beim örTV: am 9.11. war 1989 erledigt. Die kurze aber prächtige Neue Zeit vom 04.11. bis zum Fall der Mauer. Wenn es je etwas Positives an der dederischen R. gab, waren es jene Elemente aus 500 Jahren Widerstand basierend auf fundamentaler Gleichheit der Menschen. Diese wurde und wird von jedweder Seite getreten. Honi behält Recht, er irrte nur in bezug auf die spezielle Mauer und was die Laufzeit betrifft. Die menschliche Mauer der Herzen zeitigt immer wieder neue Projekte. Von dieser Freiheit sich zu unterscheiden wird der Rostocker heute wieder faseln. Krieg ist Frieden, Lüge ist Wahrheit, Sparen ist Wohlstand und die Toten zählt man nur da wo es gerade opportun ist. Wo sind noch mal genau die unterschiede zwischen der brd Adenauers und der ddr Ulbrichts? Der Hund dessen Schwanz man die Freiheit besass zu sein? Hatte vielleicht der andere dt. Phil des 19. Jh die genauere Analyse der “Geschichte”? Nietzsches manisch depressives Irresein… Feiern wir also….
Freiberufler
3. Oktober 2015 @ 14:58
Es war nicht die “Demokratie”, die “1984” verhinderte, sondern das abschreckende Beispiel des Ostblocks. So wie die wollte man es gerade NICHT machen. Die hatten die Prawda und das Neue Deutschland und die Aktuelle Kamera, wir eine freie Presse. So gesehen war die Mauer tatsächlich ein “antifaschistischer Schutzwall”.
Und seitdem die Mauer weg ist, brauchen wir die Freiheit nicht mehr.