Citoyens verzweifelt gesucht
Bei der Europawahl setzen viele auf die „europäische Öffentlichkeit“. Angeblich hat sich das Interesse an den EU-Nachbarn durch die Eurokrise massiv erhöht. Doch der Flop bei den „Green Primaries“ spricht eine andere Sprache – nicht mal die Grünen können europaweit mobilisieren.
Wenigstens ein Gutes hatte die Eurokrise, behaupten Eurokraten und EU-Experten: Sie schuf eine europäische Öffentlichkeit, in der sich Deutsche für Griechen, Griechen für Deutsche und alle für Brüssel interessieren.
Besonders begeistert wird diese These von Ronny Patz, einem Blogger und EU-Berater, vertreten. In einem Blogpost beschrieb er die neue „Sphäre“ kürzlich so:
The fact that national elections in France, Greece, Italy or Germany in recent years have received considerable media attention across Europe shows that national publics realise that what happens politically across the border matters. The border between national, transnational and European politics start to blur, for example when Spanish media cover German-Greek discussions around the start of the Greek EU Council Presidency.
Ronny führt auch das Flüchtlingsdrama in Lampedusa und die Debatte um „Sozialtouristen“ aus Bulgarien und Rumänien als Belege für eine beginnende „europäische Öffentlichkeit“ an.
Doch in Wahrheit werden die Debatten immer noch weitgehend national geführt. Wer in Deutschland interessiert sich wirklich für die italienischen Forderungen nach dem Lampedusa-Drama?
Kanzlerin Merkel wischte sie beim EU-Gipfel im Oktober mit einem Federstrich beiseite. Niemand in Deutschland nahm davon – und von den empörten italienischen Reaktionen – Notiz.
Ähnlich läuft die Debatte über Migranten aus Bulgarien und Rumänien. Die Briten lauern auf Cameron, die Deutschen auf Seehofer, EU-Sozialkommissar Andor hört kaum noch jemand zu.
Den letzten Beweis dafür, dass die EU-Öffentlichkeit – und damit auch die öffentliche Meinung – unterentwickelt ist, lieferte die „Green Primary“ für die Europawahl.
Nur knapp 23 000 Wähler haben sich an der Abstimmung über die Grünen-Spitzenkandidaten beteiligt. Bei europaweit 375 Millionen Wahlberechtigten macht das eine Beteiligung von etwa 0,006 Prozent, rechnet die „Süddeutsche“ schadenfroh vor.
Erwartet hatte man 100.000, geträumt wurde gar von einer Million. Doch nicht einmal in Deutschland hat Europa die Massen mobilisiert. Von den 60.000 Grünen-Mitgliedern machten gerade mal rund 10.000 mit.
Und hier reden wir von einer europapolitisch engagierten Partei. Am Ende musste selbst der siegreiche Spitzenkandidat J. Bové, immerhin ein Medienstar, eingestehen: „Es fehlt an Begeisterung für Europa“.
Ob sich das bis zur Wahl im Mai noch ändern lässt? Und wenn ja, in welcher „Sphäre“: national, transnational, europäisch – oder nur über die üblichen Eliten-Kreise? Europäische Citoyens, bitte melden!
Andres Müller
2. Februar 2014 @ 12:37
Da es in vielen Nationen nicht einmal demokratische Wahlen zum EU -Beitritt gegeben hat, so braucht man sich über mangelndes Interesse nicht zu wundern (die machen sowieso was sie wollen).
Europa konstituierte sich bereits sehr mangelhaft, und das Parlament wird eher als machtloser Zier -Lampion der durchregierenden (Wirtschafts) -Eliten betrachtet.
Europäische Bürger mit Interesse an den EU -Parlaments Wahlen sind wohl vor allem Angehörige von Parteien die gewählt werden wollen.
Obwohl die Schweiz nicht Mitglied in der EU ist (die Wähler waren dagegen), kann man das was gerade in unserem Land geschieht auch als Warnsignal für die Verankerung der EU in ihren Mitgliedsstaaten ansehen. Noch nie gab es so viel Unmut über die EU, was darin gipfeln könnte das nächstes Wochenende die „Masseneinwanderungs -Initiative“ der weit rechts politisierenden SVP angenommen werden könnte. Die Schweiz würde die Zuwanderung streng kontrollieren und die EU -Verträge der Schweizer Regierung sabotieren.
Eine Zustimmung zu dieser Initative hat das Potential die EU -Parlamentswahlen indirekt nach Rechts zu beeinflussen, es würde Berichte in Europas Medien geben, wie es dazu gekommen war. Derzeit tippe ich darauf dass die Initative angenommen wird.
Bei Annahme wird es in der EU vermutlich zu Aufruhr kommen, denn viele EU -Bürger hätten über die Einwanderung auch gerne abgestimmt. Es ist gut möglich dass viele EU Bürger in rechtsradikalen Parteien den einzig verfügbaren Hebel erkennen über den das möglich werden könnte. Rechtsradikale werden vermehrt ihre Stimme einlegen, während die grosse Mehrheit ihre Stimme dem Abfalleimer anvertraut.
fufu
2. Februar 2014 @ 12:02
Herr Nemschak, Wer mit Herz Europäer ist, muss nolens volens mit Hirn GEGEN – eine unoetige – EU eintreten.
Das ist eben meine Meinung. Lassen wir es dabei, sagte einmal Helmut Schmidt in Zusammenhang mit Staatsterror.
Peter Nemschak
2. Februar 2014 @ 08:02
Zurück zu kleineren Strukturen könnte auch heißen, dass überall dort, wo es sinnvoll ist, Kompetenzen an Regionen und Kommunen übertragen werden. Umgekehrt gibt es Themen, die sinnvollerweise von der EU wahrgenommen werden sollten. Außen- und Sicherheitspolitik gehören sicher dazu, ebenso wie Wettbewerbspolitik und andere Politikfelder, die sich für Synergien anbieten. Ich habe den Eindruck, Sie müssen in den letzten Jahren entsetzlich unter dem gemeinsamen Europa gelitten haben. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, auch wenn alles damals so viel besser gewesen sein mag. War es das wirklich? Wer mit Herz Europäer ist, muss nolens volens mit Hirn für eine – natürlich verbesserungsfähige – EU eintreten.
fufu
1. Februar 2014 @ 20:17
Herr Nemschak, die Einflussnahme Amerikas kann wohl kaum staerker werden, sehen Sie sich nur die Militaerbasen in Europa, die governativen und nichtgovernativen Organisationen und diversen Lobbies an. Eine Politik der kleinen Schritte in die falsche Richtung ist immer die falsche Richtung. Auch glaube ich, dass die Globalisierung ihren Zenit ueberschritten hat. Wir muessen aus verschieden Gruenden zurueck zu kleineren Strukturen.
fufu
1. Februar 2014 @ 11:20
@Gurke
Eine „EU light“, wie sie einigen vorschwebt da der Superstaat demokratisch nicht durchsetzbar ist, oder wie Sie es nennen eine EU mit striktem Subsidiaritaetsprinzip, wuerde wohl bedeuten die Strukturen der jetzigen EU aufrechtzuerhalten. Eine buerokratische Struktur hat jedoch immer die Tendenz sich zu verselbststaendigen.
Aus diesem Grund bin ich fuer eine komplette Rueckabwicklung der Fehlentwicklungen seit 1992, d.h. eine Rueckkehr zu Nationalstaaten im Rahmen einer europaeischen Wirtschaftsgemeinschaft, so wie sie mit der EWG ja recht gut funktioniert hat.
Natuerlich ergeben sich hier einge Probleme, die aber loesbar sind, z.B. die Rueckabwicklung des Euro im Rahmen einer innereuropaeischen Schuldenkonferenz unter Ausschluss des IWF. Der franzoesische Oekonom Jacques Sapir hat in diesem Zusammenhang praktikable Loesungen entwickelt, die Kapitalverkehrskontrollen fuer einen gewissen Zeitraum beinhalten. Den eingeschlagenen Irrweg in die Katastrophe weiterzubeschreiten hielte ich fuer fatal.
Die Kroenung dieser Entwicklung waere dann die Zentren der planwirtschaftlichen Hybris in Bruessel dem Erdboden gleichzumachen und dort ein Mahnmal fuer kuenftige Generationen zu errichten.
Peter Nemschak
1. Februar 2014 @ 15:40
1992 ist nicht 2014. Ob man es gerne hören will oder nicht, wenn Europa in der globalisierten Welt wirtschaftlich und politisch ein ernstzunehmender Machtfaktor sein will, führt an einer engeren Integration als heute kein Weg vorbei. Oder wollen Sie, dass wir zum Hinterhof der Amerikaner und zum Vorfeld der Russen werden?Dass der bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten Nation in der EU, Deutschland, eine Führungsrolle zukommt, ist nicht verwerflich, ebenso wenig dass Deutschland mit seinen Partnern Kompromisse schließen muss. Was spricht gegen eine Politik der kleinen Schritte?
Johannes
31. Januar 2014 @ 22:55
Wer Kritik an Europa immer mit Wörtern wie Anti-Europäer oder Nationalist „niederknüppelt“ darf sich nicht über solch ein Desinteresse wundern. Man kann sich doch heute im Jahre 2014 nicht mehr frei zum Thema Europa und Euro äußern ohne in die braune Ecke gestellt zu werden. Das sind amerkanische Politik- und Medienverhältnisse.
Wir Bürger werden an den Pranger gestellt, und dann sollen wir noch dafür Danke sagen und die Partein wählen, die uns in die braune Ecke stellen obwohl wir privat teilweise mehr Multi-Kulti sind als somanch grüner Politker???
Zu den Grünen: Meine Familie hat früher grün gewählt, jetzt wird aus Protest AfD gewählt!
Eigentlich finden wir die Grünen am besten, aber wegen deren Euro- und Europapolitik müssen wir die AfD wählen, auch wenn uns das konservative Profiel überhaupt nicht passt!
Peter Nemschak
1. Februar 2014 @ 09:44
Auch wenn wir europäisch fühlen, heißt das noch nicht, dass wir uns einen europäischen Bundesstaat aufdrängen lassen müssen. Dass europäisches Institutionenbewusstsein nur langsam wächst, weiß auch die derzeitige deutsche Regierung nur allzu gut und handelt entsprechend zurückhaltend, für viele zu zögerlich. Außenpolitik, gegenüber der EU in der Realität eine Mischung aus Innen-und Außenpolitik, muss mit der Realität der Innenpolitik rechnen und darf letztere nicht überfordern. Die EU-Bürokraten neigen dazu, diesen Umstand zu verdrängen, den EU-Parlamentariern sollte er jedenfalls bei ihren Entscheidungen stets bewusst sein.
Gurke
31. Januar 2014 @ 16:15
Die Stimmung in Europa wäre eine Chance für eine vernünftige EU mit striktem Subsidiaritätsprinzip – in etwa so, wie sie Ralf Dahrendorf immer verstanden hat. Leider verfolgen die europäischen Eliten noch immer die Idee des Lissabon-Vertrages, der aber tatsächlich der Spalthebel Europas ist.
Die tatsächliche Konfliktlinie unserer Zeit lautet paraxoderweise: Europa vs. EU.
fufu
31. Januar 2014 @ 10:34
Adolf und Goebbels waren einfach besser. Da haben die Leute noch begeistert an ihrem Untergang mitgewirkt.
Peter Nemschak
31. Januar 2014 @ 08:46
Der europäische Citoyen ist und bleibt eine Vision, ein Minderheitenprogramm, nicht unähnlich dem der europäischen Humanisten der frühen Neuzeit, wenn auch zahlenmäßig breiter aufgestellt und mit englisch statt lateinisch als lingua franca.. Der Umstand, dass auf Grund moderner Technologien eine andere Wahrnehmung von Ort und Zeit entstanden ist (European village als Teil des global village), sei es virtuell oder physisch durch den Massentourismus, hat daran wenig geändert. Gibt es einen regionalen, die nationalen Grenzen überschreitenden oder, zumindest innerhalb eines Landes, einen regionenüberschreitenden Citoyen? Oder nimmt das Interesse der meisten Bürger aneinander mit dem Quadrat der Entfernung ab?