“Wir laufen Gefahr, die Klimawende zu verspielen – wegen der sozialen Frage”

Der “Green Deal” hat eine soziale Schieflage, warnt der Chef der deutschen Grünen im Europaparlament, R. Andresen. Die EU müsse dringend nachbessern, statt nun auch noch Austerität zu predigen. Ein Interview.

Die Reallöhne sinken, die Profite steigen. Ausgerechnet fossile Energiekonzerne haben im vergangenen Jahr besonders kräftig abkassiert. Die EU wollte mit einer Übergewinnsteuer gegensteuern – was ist daraus geworden?

Das war eine gute Initiative der EU-Kommission. Doch die Umsetzung dauert zu lange, die Mitgliedstaaten lassen sich viel Zeit bei der Ratifizierung. Außerdem gibt es zu viele Schlupflöcher. Wenn diese Steuer in Deutschland nur zwei bis drei Milliarden Euro bringt, dann ist das einfach zu wenig. Die Übergewinnsteuer ist zu löchrig, da ist kein Wumms dahinter.

Müsste das Europaparlament da nicht mehr Druck machen?

Ja, denn die Kommission ist sehr zurückhaltend. Sie hat sich zwar um die Energiepolitik gekümmert, als im letzten Jahr die Preise stiegen. Doch zur sozialen Frage, die damit verbunden ist, kommt sehr wenig. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist auf dem sozialen Auge blind, sie hört viel zu sehr auf die Mitgliedsstaaten.

Das EU-Budget nachbessern

Immerhin soll es nun einen Klimasozialfonds geben, von der Leyen will ihn mit 87 Milliarden Euro ausstatten. Was halten Sie davon?

Wir brauchen eine starke soziale Säule im Green Deal, dazu gehört auch der Klimasozialfonds. Doch 87 Milliarden sind für 27 EU-Staaten viel zu wenig, das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich halte es für einen Fehler, dass nur ein Bruchteil der Einnahmen aus dem Emissionshandel in den Sozialfonds geht. So laufen wir Gefahr, die Klimawende zu verspielen – wegen der sozialen Frage! Wir brauchen ein Projekt, das für alle funktioniert, sonst kann der Green Deal nicht realisiert werden.

Das Parlament hat diesem Deal aber schon zugestimmt. Wo wollen Sie denn nun noch Geld für Soziales holen?

Richtig, der erweiterte Emissionshandel und der Klimasozialfonds sind schon beschlossen. Aber man kann das nötige Geld auch aus dem EU-Budget holen. Im Sommer steht die Revision des mehrjährigen Finanzrahmens an, dann werden die Prioritäten neu gewichtet. Diese Gelegenheit sollte die EU-Kommission nutzen, um hier nachzubessern. Der Green Deal ist nicht nur ein Wirtschaftsprojekt, die soziale Frage entscheidet über Erfolg oder Misserfolg.

Von den USA lernen

Was heißt das konkret, können Sie ein Beispiel nennen?

Schauen Sie sich die USA an. Im Inflation Reduction Act (IRA) wird die Klimapolitik von vornherein auch als Sozial und Arbeitsmarktpolitik konzipiert. Davon können wir in Europa viel lernen. Oder nehmen wir Deutschland. Die Heizdebatte zeigt, wie viel sozialen Sprengstoff die Energiewende birgt. Es geht deshalb darum, beides zusammen zu denken – die Energiewende und die soziale Frage. Einige Gewerkschaften machen dies auch schon, wie der gemeinsame Streik von Verdi und Fridays for future zeigt.

In der EU geht die Reise in eine andere Richtung. Die EU-Kommission fordert wieder Budgetdisziplin; die geplante Reform der Schuldenregeln dürfte den Sparzwang erhöhen…

Der Vorschlag der Kommission ist stark an Deutschland und den frugalen Ländern ausgerichtet. Er enthält wenige schwache Aussagen zum Klima, die soziale Frage spielt gar keine Rolle. Das macht mir Sorgen – denn es kann dazu führen, dass wieder eine Austeritätspolitik kommt und die soziale Infrastruktur geschwächt wird. Ich hoffe, dass das nicht das letzte Wort bleibt. Wir brauchen mehr Geld für Soziales, etwa für den Bau von Krankenhäusern!

Im Frühjahr 2024 wird ein neues Europaparlament gewählt. Könnte die soziale Frage ein Thema im Wahlkampf werden?

Ja, das wird eines der großen Themen! Wir leben in einer Zeit großer Unsicherheit – wegen der Klimakrise, aber auch wegen des Kriegs in der Ukraine. Die Menschen suchen Sicherheit, deshalb wird die soziale Frage sehr wichtig.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der “taz.” Siehe auch CO2 bekommt einen Preis – die Bürger zahlen die Zeche Mehr zum Green Deal hier