Vor der Kernschmelze?
Eine Woche vor dem EU-Gipfel ist die Lage ernst. Plötzlich poppen überall neue Krisen und Gefahren hoch, die man noch vor kurzem nicht für möglich gehalten hätte. Die Probleme treffen nicht mehr nur die Peripherie, sondern den Kern.
Fangen wir mit der EU-Kommission und ihrem Chef Juncker an: Er hat mit dem Sondergipfel zur Flüchtlingsfrage komplett ins K… gegriffen. Sein Gipfel-Entwurf spaltet die Union, der Text zeigt einen prinzipienlosen Rechtsruck an.
Womit wir bei Kanzlerin Merkel wären, die Juncker zu diesem unwürdigen Chaos-Gipfel gedrängt hat. Sie muss um ihr politisches Überleben kämpfen – und droht, dabei die EU mit in den Abgrund zu reißen. Unglaublich!
Beide – Merkel und Juncker – stehen unter Druck der Populisten und Nationalisten, die nun auch in Österreich und Italien Fuss gefaßt haben. Ist die neue “Achse” München-Wien-Rom stärker als der “deutsch-französische Motor”?
Wenig erfreulich sieht es auch beim eigentlichen Gipfel kommende Woche aus. EU-Reform, Euro-Reform, Dublin-Reform – kein einziges Problem wurde gelöst. Beim Gipfel des “Aufbruchs” droht ein Debakel, auch für Merkel.
Das gilt selbstredend auch für den Brexit. Die EU schafft es nicht einmal, den britischen Austritt reibungslos über die Bühne zu bringen. Jetzt werden schon die Notfallpläne aktiviert; es droht der Worst case – keine Einigung!
Doch nicht nur in Großbritannien muss man sich auf das Schlimmste gefasst machen. Auch die Wahl in der Türkei verheißt nichts Gutes. Wenn Sultan Erdogan gewinnt, droht der Übergang in eine islamische Diktatur.
Und dann hätten wir noch unseren Lieblingsfeind D. Trump. An diesem Freitag treten die Gegenmaßnahmen gegen die US-Strafzölle in Kraft. Wie wird der US-Präsident reagieren? Stürzt er die Welt in einen Handelskrieg?
Bisher sah es noch so aus, als würden die diversen Konflikte die EU zusammenschweißen. Trump, Erdogan oder Russlands Putin haben geholfen, den Schein der Einheit zu wahren. Doch nun hat die Krise auch den Kern erfasst.
Was kommt als Nächstes? Die Kernschmelze? Oder schleppt sich die EU mit ihrer schier unendlichen “Polykrise” bis in die Europawahl, um dort das nächste Debakel zu erleben? Die Umfragen sehen finster aus…
Siehe auch “Europa ohne Merkel denken”
WATCHLIST:
- Was hat die Eurogruppe in Sachen Griechenland beschlossen, und wie wird sie es verkaufen? Am Freitag treten die Minister vor die Presse. Als Gegenleistung für den Ausstieg aus dem 3. Bailout soll Athen 88 weitere Reformen umsetzen und sich streng kontrollieren lassen. So will es Berlin – das mit der Griechenland-Hilfe 2,9 Mrd. Euro Gewinn gemacht hat…
WAS FEHLT:
- Steuern von Apple. Der Computerkonzern zahlt $13.9 Mrd. Steuern in den USA, aber nur $1.7 Mrd. im Rest der Welt. Die Steuerquote in der EU dürfte bei 0.7 Prozent liegen, schätzt die “Linke” in einer neuen Studie. Der irische Abgeordnete Matt Carthy von der Partei Sinn Fein warf der Regierung seines Landes vor, in großem Stil Steuervermeidung zu begünstigen.
Art Vanderley
22. Juni 2018 @ 20:56
@Solveig Weise
In Ungarn könnte es durchaus sein, daß die EU-Mitgliedschaft, die von Orban interessanterweise nie ernsthaft angezweifelt wurde, zumindest beiträgt dazu, daß es bislang nicht zur offenen Verfolgung von Juden, Sinti und Roma kommt. Rechts von der Fidesz lauert dort die Jobbik mit 20%, eine rechtsextreme Partei, die so weit rechts steht, daß selbst Marine LePen nichts mit ihr zu tun haben will.
Solveig Weise
22. Juni 2018 @ 13:39
@ebo: Ist es nicht vielmehr so, dass sich wieder einmal klar und eindeutig zeigt was die EU in ihrer aktuellen Verfassung eigentlich darstellt? Eine “Schönwetterveranstaltung”, die so lange funktioniert bis es schwierig wird. Sie haben da als “Insider” doch viel besseren Einblick als der Standard Medienkonsument. Die EU ist (wenn man dies so drastisch sagen möchte) ein moralisches Großmaul, dass stets dann versagt wenn harte Entscheidungen zu treffen wären. Stichworte hier die Rechtsstaatlichkeit in “Polen”und “Ungarn” oder das dröhnende Schweigen als Salvivi diese Woche von der Klärung der “Roma-Frage” schwadronierte. Bezeichnend auch der Umstand wie die Trump Administration die Politdarsteller in Brüssel permanent demütigt und damit locker durchkommt.
ebo
22. Juni 2018 @ 14:10
Da haben Sie leider Recht. Allerdings müssen wir uns auch fragen, wie es ohne die EU aussähe. Wer würde die wachsenden Spannungen dann auszugleichen suchen?
Solveig Weise
22. Juni 2018 @ 14:29
Diese Frage ist absolut legitim, allerdings bin ich mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass sich die EU Bürokratie verselbständigt hat. Man hat sich massiv “überdehnt”. Jetzt hat man Regierungen in vielen Ländern, die ihre Erfolge offener Opposition gegenüber der EU zu verdanken haben. Massiv dafür verantwortlich, ohne Zweifel, Angela Merkel. Die Grenzöffnung hat die Spannungen die durch die gemeinsame Währung bereits virulent waren weiter extrem verstärkt. Der Euro eint die Teilnehmerstaaten nicht, er spaltet genauso wie eine Migrationspolitik, welche die Masse der Menschen in der EU nicht will sondern offen ablehnt. Bei der Europawahl im kommenden Jahr droht ein Waterloo.
“The road to hell is paved with good intentions”.
Georg Soltau
22. Juni 2018 @ 13:15
ja bitte doch aber mit Europäern und europäischen Nationen aber bitte ohne „Völker und Vaterländer“, die hatten wir schon.
Thomas
22. Juni 2018 @ 09:57
Hoffentlich überlebt “Europa” (der Name EU ist schon verbrannt) die Geiselnahme durch die Globalisten und Werterelativisten, verkörpert von Merkel, Macron und Juncker und ein freies und demokratisches Europa der Völker und Vaterländer wird nach dem Ende ihrer Herrschaft errichtet.
Ein Europa das sich wieder auf seine Wurzeln und Traditionen besinnt und sich nicht in der Welt auflösen will wie ein Stück Zucker.
Peter Nemschak
22. Juni 2018 @ 07:42
Die führenden Politiker in der EU, aber auch die Koalition der Mitte in Deutschland ist, Geldpolitiker würden sagen, “hinter die Kurve” geraten und Gefangene der Ereignisse geworden. Zugegeben, es ist schwer, den Bürgern eine proaktive Politik nahe zu bringen. 2015 war ein besonderes Jahr, das aber schon Jahre zuvor “angelegt” war. Dass man das Flüchtlingsproblem 2015 vermieden hätte, wären die Grenzen geschlossen worden, ist mehr als fraglich. Vermutlich hätte man den Westbalkan destabilisiert und schwer einschätzbare Sicherheitsprobleme nicht nur für Deutschland sondern für die gesamte EU provoziert. Es wird auch übersehen, dass zum Zeitpunkt der Grenzöffnung, die man heute Merkel vorwirft, bereits hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland angekommen waren. Was man Merkel und ihren Politikerkollegen sehr wohl vorwerfen kann, dass sie seit 2015 keine durchgreifenden Maßnahmen gesetzt haben, um das Problem in den Griff zu bekommen und “vor die Kurve” zu kommen, das heißt das Gesetz des Handelns an sich zu ziehen. Das ständige kleinweise Reagieren und sich verzetteln am Nebenschauplatz der Flüchtlingsverteilungsgerechtigkeitsfrage, hat den gesellschaftlichen Diskurs nach rechts getrieben und die Gesellschaft gespalten, letztlich nichts bewirkt. Politik muss mit den verschiedenen menschlichen und gesellschaftlichen Kräften, sei es Mitleid, aber auch den Ängsten und niederen Instinkten der Bürger rechnen und proaktiv handeln, d.h. auch in Kauf nehmen, dass sie erst viel später und im nachhinein, von den Bürgern verstanden wird, sich über die täglichen likes und dislikes der Gesellschaft hinwegsetzen. Tut sie das nicht, wird sie Opfer eines Paradigmenwechsels statt dessen Gestalterin. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion der Politiker und Bereitschaft Risiken des persönlichen politischen Scheiterns einzugehen, wäre dafür unabdingbar. Fehlt sie, misslingt die notwendige Balance zwischen Nähe und Distanz zum gesellschaftlichen Material, dass Politiker gestalten müssen. Fazit: heute bekommen wir rechte Übertreibungen, genährt von den niederen Instinkten der Leute auf der einen Seite und den moraltriefenden Mahnungen auf der anderen Seite des menschlichen Spektrums. Hass zwischen beiden ist das Ergebnis. Gute Politik muss mit all dem rechnen und muss den Verlockungen beider widerstehen. Das unterscheidet den Staatsmann/Staatsfrau vom Wald- und Wiesenpolitiker bzw. Politikerin.
Georg Soltau
22. Juni 2018 @ 12:14
auch wenn es mir schwer fällt. aber wo er recht hat hat er recht