Ukraine will ESC austragen – really?
Nach dem Sieg beim “European Song Contest” will die Ukraine den nächsten ESC in ihrem Land austragen. Doch statt wie üblich in der Hauptstadt Kiew soll die Fete im russisch besetzten Mariupol stattfinden. Was soll das?
“Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine den Eurovision! Zum dritten Mal in unserer Geschichte”, schrieb das ukrainische Staatsoberhaupt Selenskyj in der Nacht zum Sonntag im Nachrichtenkanal Telegram. Sein Land hatte den ESC bereits in den Jahren 2004 und 2016 gewonnen.
Die Fete solle in Mariupol stattfinden, erklärte Selenskyj weiter. Doch dort stehen derzeit russische Truppen. Im Asow-Stahlwerk finden sogar noch Kämpfe statt – gegen das umstrittene Asow-Regiment. Russland lässt nichts unversucht, um die Stadt vollständig einzunehmen.
Vor diesem Hintergrund wirkt es ziemlich anmaßend, den nächsten ESC in Mariupol austragen zu wollen. Zwar ist verständlich, dass die Ukraine die Stadt zurückerobern möchte. Doch angesichts des Krieges ist nicht einmal klar, dass der ESC 2023 überhaupt stattfinden kann!
Das Ganze ist offenbar eine Propaganda-Aktion, mit der die Aufmerksamkeit auf Mariupol gelenkt werden soll. Schon bei ihrem Auftritt hatten die Sänger vom Kalush Orchestra für die Stadt und die Kämpfer vom Asow-Regiment geworben. Europa solle bei der Befreiung helfen.
Der ESC wird so zum Teil der ukrainischen Kriegs-Propaganda, der Wettbewerb lässt sich sogar für ein Kriegsziel (die Rückeroberung Mariupols) einspannen. Mir gefällt das nicht. Das Ziel sollte vielmehr lauten: Nächstes Jahr in Kiew – in Frieden und wenn möglich wieder mit Russland…
Alexander
16. Mai 2022 @ 10:27
Zum ESC: Ich wurde gerade auf folgenden fünfsekündigen Videoausschnitt aufmerksam gemacht:
https://t.me/neuesausrussland/5415
ebo
16. Mai 2022 @ 10:50
Das ist bestimmt ein Mißverständnis 😉
Alexander
16. Mai 2022 @ 11:01
Vielleicht ist das Video ja auch eine plumpe russische Fälschung? Das wäre mir peinlich, aber ich kann das leider nicht auf die Schnelle kontrollieren. Es stammt ja auch von einem “umstrittenen” Kanal. (Ob wohl das dort ebenfalls zu zu findende Video mit dem Sänger, dem von der Polizei verboten wurde, auf Russisch zu singen, echt ist?)
Thomas Damrau
16. Mai 2022 @ 09:58
Wichtige historische Ereignisse werden durch eine mythologischen Deutung überhöht. Im Rückblick werden dem Ereignis Zwangsläufigkeit, historische Weichenstellung, zivilisatorischer Fortschritt und Sieg der gerechten Sache zugeschrieben.
Früher musste die Überhöhung Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte warten, bis das passende Narrativ gefunden war: Vieles, was heute in den Geschichtsbüchern als Wendepunkt der Menschheitsgeschichte dargestellt wird, war für die Zeitgenossen eher eine fatale Kombination aus Hunger, Mord, Vergewaltigung und Ausbeutung.
Im 20. Jahrhundert wurde zunehmend die mythologische Deutung gleich mitgeliefert: Gerade im Deutschland der Jahre 1933-1945 geschah nichts ohne einen Verweis auf die schicksalhafte Bedeutung des Ereignisses.
Im 21. Jahrhundert sind wir noch einen Schritt weiter: Ereignisse, die noch nicht gar nicht stattgefunden haben, erhalten prophylaktisch ihren Mythos.
Der ESC 2022 wurde schon im Vorfeld zur großen Solidaritätskundgebung stilisiert: “Das freie Europa versammelt sich um eine ukrainische Band.” Eine anderes Ergebnis als ein ukrainischer ESC-Sieg war schon seit Wochen nicht mehr denkbar. Der nächste vorauseilende Mythos ist konsequenterweise “ESC 2023 als Siegesfeier des demokratischen Europas in Mariupol”.
Der Ukraine-Krieg gewinnt täglich neue surreale Qualitäten. Während in der Realität weiter gestorben wird, wird in den Medien ein Hollywood-Drehbuch abgespielt:
– Die Ukraine als Underdog, der mit Mut und Schlauheit das übermächtige Böse vertreibt
– Selenskyi als Bruce-Willis-Klon, der im durch Muskeln gestrafften T-Shirt mit Entschlossenheit und coolen Sprüchen die Außerirdischen besiegt
– Andrij Melnyk als entschlossener Kämpfer, der (im Gegensatz zu faselnden Regierungschefs und dekadenten Soziologen) Klartext redet und den verweichlichten Deutschen Dampf macht
– Eine Menschheit, die angesichts der globalen Bedrohung endlich ihre Egoismen beiseite zur Seite legt und geeint dem Aggressor entgegentritt
– Die Siegesfeier 2023, bei der sich die Welt mit gezückten Smartphones in Mariupol umarmt
Geplanter Kinostart: Frühjahr 2024