Sassolis einsamer Kampf, Stoltenbergs schwieriger Gast – und wieder mehr Flüchtlinge

Die Watchlist EUropa vom 12. Januar 2022 –

Es ist ein Schock für die EU: Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit ist der Präsident des Europaparlaments, der Italiener David Sassoli, am Dienstagmorgen im norditalienischen Aviano gestorben. Der 65-Jährige war zu Weihnachten ins Krankenhaus eingeliefert worden; er starb nach offiziellen Angaben an einer Störung des Immunsystems.

Sassoli, der der Partito Democratico angehörte, hatte das EU-Parlament seit 2019 geleitet. Seine Amtszeit wäre Ende des Monats ausgelaufen, weil sich die Sozialdemokraten und die konservative Parteienfamilie EVP die fünfjährige Legislaturperiode beim Vorsitz teilen. Am kommenden Dienstag will das Parlament über seine Nachfolge entscheiden.

Die Nachricht vom Tod des beliebten, außerhalb Italiens aber wenig bekannten Politikers hat weit über Brüssel für Bestürzung gesorgt. “Sassoli war ein Symbol für Ausgewogenheit, Menschlichkeit und Großzügigkeit“, erklärte Italiens Ministerpräsident Mario Draghi in Rom. Seine Qualitäten würden quer durch alle Parteien geschätzt.

„Heute ist ein trauriger Tag für Europa“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die EU verliere einen „leidenschaftlichen Europäer, einen überzeugten Demokraten und einen guten Menschen“, betonte die CDU-Politikerin, die aus Anlass des Todes ganz in schwarz gekleidet war. Sassolis Lächeln werde ihr fehlen.

Allerdings waren die Beziehungen zwischen der Kommissionschefin und dem Parlamentspräsidenten zuletzt eher frostig. Weil von der Leyen nicht energisch genug gegen Rechtstaatsverstöße in Ungarn und Polen vorgehe, hat das Parlament eine Untätigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof eingeleitet – ein Eklat.

Streit gab es auch über den milliardenschweren Corona-Aufbaufonds und die geplante neue Gesundheitsunion. Die EU-Kommission will dem Parlament dabei allenfalls eine beratende Rolle zugestehen. Von der Leyen häuft immer mehr Macht in der EU an und umgeht die demokratische Kontrolle. Sassoli war darauf nicht gut zu sprechen.

Sozialdemokraten ließen ihn fallen

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Der frühere Journalist und Fernsehmoderator hatte aber auch Ärger mit Parlamentskollegen. Sie empörten sich über den angeblich zu laxen Umgang mit der Corona-Pandemie. Vor allem deutsche Europaabgeordnete weigerten sich, zu Plenartagungen nach Straßburg zu reisen, die Sassoli im Herbst nach langer Lockdown-Pause angesetzt hatte.

Sassoli wiederum beklagte sich, wegen Corona habe er sein Amt nicht wirklich ausüben können. Auch die Arbeit des Parlaments war eingeschränkt. Die Abgeordneten konnten nicht mehr „physisch“ debattieren und live abstimmen, das Parlamentsgebäude in Straßburg stand monatelang leer und wurde zeitweise als Obdachlosen-Unterkunft genutzt.

Sassoli wollte die verlorene Zeit wieder gutmachen und spielte sogar mit dem Gedanken, für eine zweite Amtszeit zu kandidieren. Doch seine Pläne wurden nicht zuletzt von den eigenen Genossen durchkreuzt. Die Sozialdemokraten ließen sich auf die im Parlament üblichen Händel mit der EVP ein und schnürten ein neues Personalpaket.

EVP nominiert Abtreibungs-Gegnerin

Demnach soll die erzkonservative EVP-Politikerin Roberta Metsola aus Malta die Leitung des Europaparlaments übernehmen. Im Gegenzug könnte der konservative deutsche Generalsekretär Klaus Welle (CDU) den Rückzug antreten. „Welles Amtszeit neigt sich dem Ende zu“, prophezeit der Chef der SPD-Gruppe im Parlament, Jens Geier.

Allerdings hagelt es Kritik an diesem Hinterzimmer-Deal, der in dieser Woche besiegelt werden soll. Mit Metsola rücke eine erklärte Abtreibungs-Gegnerin an die Spitze der EU, kritisieren Linke und Grüne. Damit werde das Europaparlament massiv an Glaubwürdigkeit verlieren. Zudem könne die EVP ihre Macht noch mehr ausbauen.

Sassoli war nach der Europawahl von den Sozialdemokraten nominiert worden, um ein Gegengewicht zu den Konservativen zu bilden. Wenn Metsola sein Amt nun wie geplant übernimmt, besetzt die EVP alle EU-Spitzenposten; nur der Rat wird mit dem Belgier Charles Michel noch von einem Liberalen geführt.

Siehe auch “Sassoli, der Unvollendete”

Watchlist

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