Non, Frankreich wird nicht unregierbar
Nach der Wahlschlappe der Bewegung von Präsident Macron malen viele ein “unregierbares” Frankreich an die Wand. Doch das droht nicht. Das Problem liegt ganz woanders.
Macrons Wahlbündnis “Ensemble” hat die absolute Mehrheit verfehlt. Es errang nur 246 von 577 Sitzen. 289 braucht es für die Mehrheit. Das ist ärgerlich für Macron – aber nicht das Ende der Welt.
Der liberale “Sonnenkönig” muß nun Bündnispartner suchen oder von Fall zu Fall um Mehrheiten für seine Politik werben. Das wird ihm gut tun, der Demokratie in Frankreich auch.
Unregierbar wird das Land dadurch nicht. Ich habe die “Cohabitation” zwischen dem Neogaullisten Chirac und dem Sozialisten Jospin als Korrespondent in Paris erlebt, es ging erstaunlich glatt über die Bühne.
Das eigentliche Problem liegt woanders. Macron könnte nun auf die Rechte zugehen, obwohl das Linksbündnis Nupes bei dieser Wahl besser abgeschnitten hat.
Vor der entscheidenden Stichwahl hat er es schon versäumt, zur Wahl der Linken aufzurufen, wie es früher üblich war, um den Aufstieg der Nationalisten um Le Pen zu verhindern.
Statt die republikanische “barrage” zu empfehlen, sich Le Pen also in den Weg zu stellen, haben Macrons Truppen so getan, als seien Lechts und Rinks gleich.
Das ist fatal. Le Pen konnte so die größte rechtsradikale Fraktion aller Zeiten aufstellen. Ein Glück nur, dass sie kleiner ist als die Fraktion der geeinten Linken!
Mit der EU ist kein Blumentopf zu gewinnen
Ein weiteres Problem liegt in der Europapolitik. Macron dürfte seinen Kurs zwar nicht ändern; in der Außenpolitik spielt das Parlament keine große Rolle, das ist die Domäne des Präsidenten.
Doch die Wahl hat gezeigt, dass mit einer ausgesprochen proeuropäischen Politik in Frankreich kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist.
Nicht einmal die Reise nach Kiew hat Macron noch geholfen. Das sollte allen EU-Politikern zu denken geben. Ihr Projekt ist auf Abwege geraten; der Brexit hat als Warnschuß offenbar nicht genügt…
Mehr zur Wahl in Frankreich hier
Armin Christ
21. Juni 2022 @ 09:33
Wenn “proeuropäische Politik” nichts anderes ist als dieser EUkommission, die am Gängelband Washingtons hängt, hinterherzuhetzen, dann bin ich auch kein Proeuropäer mehr.
european
21. Juni 2022 @ 06:40
„Doch die Wahl hat gezeigt, dass mit einer ausgesprochen proeuropäischen Politik in Frankreich kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist.“
Insbesondere dann nicht, wenn offensichtlich niemand sonst mitmacht. Deutschland hätte an proeuropaeischer Politik kein Interesse, weil wir nur am Binnenmarkt interessiert, solange er uns nützt. Da wurden große politische Chancen dem schnöden Mammon geopfert.
Ausserdem leiden auch in Frankreich weite Teile der Bevölkerung noch unter der fatalen Politik nach der Finanzkrise. Man macht es den Rechtsaussenparteien in der EU sehr leicht, die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen.
Wenn normale Menschen keinen realen Zugewinn aus der EU sehen, sondern nur persönliche Nachteile, Lohneinbussen, Abbau von sozialer Sicherheit, Arbeitslosigkeit etc., warum sollten sie eine proeuropaeische Politik mit ihrem Stimmzettel fördern?
Aktuell sieht es so aus, dass man diese Politik fortsetzen will.
Bekanntes Muster: Die Medizin wirkt nicht, also nehmen wir mehr davon.
Art Vanderley
20. Juni 2022 @ 20:22
Ein Establishment, daß ganz weit rechtsoffen ist aus Angst vor einer Linken, die dem Arbeiter sein Häuschen im Tessin klauen will, die Kinder der Bürgerlichen fressen und den Kommunismus einführen will- kann man ja verstehen, ist uns Deutschen nicht ganz unbekannt.
“Doch die Wahl hat gezeigt, dass mit einer ausgesprochen proeuropäischen Politik in Frankreich kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist.”
Wär ich vorsichtig. Melonchon ist EU-skeptisch, selbst LePen will seit kurzem nicht mehr raus aus der EU. Klingt eher nach massiver EU-Skepsis, was sogar ein Hinweis auf eine Haltung sein könnte, die Europa retten will vor der real existierenden EU.
Fritz
20. Juni 2022 @ 18:07
Ob Frankreich unregierbar sein wird, ob Macron früher oder später die Nationalversammlung auflöst und Neuwahlen organisiert: wer weiß es ?
Allerdings lässt sich die jetzige Situation schwerlich mit der Kohabitation von Chirac und Jospin vergleichen. Letzterer verfügte über eine deutliche Mehrheit (319 von 577 Sitzen). Keine der derzeitigen Oppositionsbündnisse (NUPES) und -gruppen (Les Républicains, Rassemblement national) verfügt über eine Mehrheit. Die relative Mehrheit liegt bei Ensemble!, dem Bündnis der Macron-Bewegung, den christlich-liberalen Bayrous und Horizons des ehemaligen Premierministers E. Philippe: diese werfen der NUPES vor ein buntes, potentiell zerstrittenes Sammelsurium zu sein. Ob Ensemble! sich durch Stablität auszeichnen wird ? Mit wem soll Ensemble! koalieren ? Der Vorsitzende der Républicains Jacob schließt dies aus (“compromis est compromission”/ein Kompromiss ist ein – schädliches – Zugeständnis). Die Macron-Kompatiblen Républicains sind schon seit 2017 bei LREM. Das erste Ziel der LFI (Hauptbestandteil der NUPES) ist es, so schnell wie möglich ein Misstrauensvotum gegen die Regierung zu starten, die Macron demnächst einsetzen muss. Optimisten denken, dass es in Frankreich so etwas Ungewohntes wie Koalitionsverhandlungen geben könnte…
ebo
20. Juni 2022 @ 19:03
Ja, ich denke auch, dass es ein Misstrauensvotum geben wird, und die neue Premierministerin wird gestürzt. Ihr wird aber niemand eine Träne nachweinen.
Danach wird es spannend. Allerdings kann ich an Koalitionsverhandlungen nichts Schlechtes finden. Selbst eine Minderheitenregierung, die sich auf ad hoc-Mehrheiten stützt, muß kein Unglück sein.