Der entmündigte Wähler

Beim ersten EU-Gipfel nach der Bundestagswahl holt Kanzlerin Merkel ihre alten Pläne für die Eurozone aus der Schublade. Sie laufen auf eine Entmündigung gewählter Regierungen hinaus. Die Demokratie bleibt auf der Strecke – wohl schon bei der Europawahl.

Was hatten uns Merkel und ihr Finanzminister Schäuble vor der Wahl nicht alles versprochen! Mehr Europa, weniger Europa, mehr Geld für Wachstum, weniger Geld für die EU – und natürlich mehr Demokratie in Brüssel!

Doch kaum ist die Wahl gelaufen, wird auch das Demokratie-Versprechen zurückgenommen. Von der Direktwahl eines EU-Präsidenten ist keine Rede mehr, auch eine indirekte Wahl des Kommissionschefs rückt in weite Ferne.

Bisher hat Merkels konservative EVP nicht einmal einen gemeinsamen Kandidaten für die Europawahl nominiert. Vom Versprechen, dass der Wahlsieger auch den nächsten Kommissionschef stellt, rückt sie auch schon ab.

Damit wird auch die nächste EU-Kommission, die nach der Mai-Wahl im Herbst 2014 ihr Amt antritt, ohne eigene demokratische Legitimation auskommen müssen.

Die Brüsseler Behörde bleibt eine Behörde, sie wird wohl nur noch abhängiger von Berlin. Denn die große Koalition an der Spree möchte natürlich auch die große Koalition steuern, die im Europaparlament herrscht

Dies wäre also der erste Wahlbetrug: die EU wird nicht demokratischer, nur noch deutscher. Die Europawahl wird de facto kaum einen Einfluss auf die EU-Politik haben, fast alles wird in Berlin ausgemauschelt.

So wie vor diesem Eu-Gipfel: Kommissionschef Barroso und Ratspräsident reisten an die Spree, um sich im Kanzleramt ihre Instruktionen abzuholen (und der „Bild“-Zeitung ein Interview zu geben).

Doch Merkel bereitet schon den zweiten, noch dreisteren Coup vor: Sie will ihre so genannten Reformverträge für mehr Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone durchboxen. Beim EU-Gipfel heute Abend sie wieder auf dem Programm.

Merkel will erreichen, dass sich die Euro-Länder zu Strukturreformen verpflichten – und zwar per Vertrag mit der EU. Möglichst alle sollen der deutschen Agenda 2010 nacheifern – und in Brüssel Rechenschaft ablegen.

Doch die Kommission ist dazu gar nicht berechtigt. Es fehlt ihr nicht nur die demokratische Legitimation, sondern auch die Rechtsgrundlage. Die will Merkel mal so eben ändern – mit einer Vertragsänderung durch die Hintertür.

Wenn sie Erfolg hat, hätten die Bürger der meisten Euroländer gar nichts mehr zu melden – weder bei den nationalen Wahlen noch bei Europawahlen. Merkels Politik in Europa wäre endgültig „alternativlos“ geworden.

Zum Glück gibt es noch Widerstand im Rat und im Europaparlament. Vor allem die Vertragsänderung stößt auf Bedenken. Dabei ist die Entmündigung der Bürger der eigentliche Skandal…