Ein abgekartetes Spiel?
Nach dem EU-Gipfel jubeln die Regierungschefs der Niederlande und Ungarns, Rutte und Orban, besonders laut. Kanzlerin Merkel ist ihnen nicht in die Parade gefahren, sondern ließ sie tagelang gewähren. War es ein abgekartetes Spiel?
Schon vor dem Marathon-Gipfel gab es Gerüchte, dass Merkel einige besondere Rücksichten nehmen werde. Die Kanzlerin hat sie selbst angeheizt. So empfing sie Rutte im Berliner Kanzleramt und erklärte, dass die Coronahilfen an strikte Reformauflagen geknüpft werden müssen – das war dann Ruttes erste Forderung beim EU-Gipfel.
Zudem ließ sie durchblicken, dass der Rechtsstaat – etwa in Ungarn – keine Priorität genießen werde. Erst einmal müsse man ein EU-Budget haben, um dann die Hilfen an den Rechtsstaat zu binden, erklärte Merkel.
Auch das ist genauso gekommen. Das Thema Rechtsstaat wurde erst ganz am Schluß des Gipfels aufgerufen – und dann mit vagen Formelkompromissen abgehandelt.
Zuvor hatte die “Bild”-Zeitung berichtet, dass Merkel dem Ungarn Orban entgegengekommen sei: “In kleiner Runde mit den ‘sparsamen Fünf’ und Frankreich schlug sich die Kanzlerin plötzlich auf die Seite von Ungarn und Polen.”
War das Ganze also ein abgekartetes Spiel? Hat Merkel ihrem engen Partner Rutte das Feld überlassen, damit er Reformauflagen und eine Kürzung der Zuschüsse durchdrücken konnte? In der Eurokrise hat die Kanzlerin selbst “Reformverträge” gefordert…
Und hat sie Orban geschont, um den mühsam zusammengeflickten Deal nicht zu gefährden? Orban behauptet sogar, Merkel habe ein Ende des Rechtsstaats-Verfahren gegen sein Land in Aussicht gestellt!
Überprüfen lässt sich das kaum. Doch eindeutig verhält sich Merkel nicht. Dabei hätte sie als amtierende Ratsvorsitzende beim Gipfel eine klare Richtung vorgeben können. Viele haben das sogar herbeigesehent – von wegen “deutsche Führung” und so.
Doch Merkel ließ die Zügel schleifen. Deshalb können sich Rutte und Orban nun als Sieger feiern…
Siehe auch “Merkel lässt Rutte machen”
Freiberufler
22. Juli 2020 @ 11:17
Abgekartet? Dass man sich einigen würde, weil man sich einigen musste, war völlig klar, und wie immer hat man sich darauf geeinigt, gerade genug Geld zu drucken, dass das Europrojekt weiter gehen kann. Und freilich muss die Einigigung kompliziert und instransparent sein, damit sich in einem Nullsummenspiel jeder als Gewinner feiern lassen kann.
European
21. Juli 2020 @ 18:12
Es wundert mich nicht.
Aber sie hat nichts zu verlieren. Sie hört im nächsten Jahr sowieso auf und was danach an Schäden herauskommt, ist dann die Schuld anderer. Im Zweifelsfall ist es dann wieder der Süden, die einfach nicht begreifen wollen, was es heißt deutscher zu werden.
Deutschland selbst hatte vor Corona ein Investitionsdefizit von fast 500 Mrd Euro, weil das Land seit Jahrzehnten auf Verschleiß fährt, eben nichts reformiert hat, die Digitalisierung nicht hinbekommen hat, Brücken, Straßen und Schienen zerfallen, das Bildungssystem unterfinanziert und reformbedürftig ist uvm.
Dass so ein Wiederholungstäter unwidersprochen Reformforderungen an andere stellen kann, ist für mich unfassbar.
Holly01
22. Juli 2020 @ 08:35
Alte Opernregel: Es ist erst zu Ende wenn die dicke Dame singt.
Noch ist die Merkel nicht weg und ich glaube auch nicht, das die geht.
Die werden die weiter jeden morgen neu ausstopfen und die Batterien wechseln, damit das Häschen immer weiter trommelt ……
Sonst müssten die ja den Kohl ausbuddeln und noch einmal so klonen, dass man den Unterschied nicht einmal marginal merkt.
Ne, die stellt einen neuen Rekord auf, was Amtszeit als KanzlerInn angeht.
vlg
Pjotr56
21. Juli 2020 @ 16:28
Interessanter Aspekt, den Jens Berger auf den NDS heute ähnlich aufgegriffen hat:
“EU-Gipfel: „Die sparsamen Vier“ – Endlich hat Deutschland seine neue Margaret Thatcher
Lange wurde in Brüssel gestritten, so lange wie noch nie auf einem EU-Gipfel. Unter deutscher Ratspräsidentschaft war es diesmal vor allem eine Ländergruppe mit dem merkwürdigen Namen „die sparsamen Vier“, die mit einer harten Verhandlungslinie das geplante Hilfspaket zum „Wiederaufbau“ der durch die Corona-Maßnahmen arg ramponierten europäischen Volkswirtschaften auf neoliberalen Kurs brachte. Am Ende siegten sie auf fast ganzer Linie und konnten getreu dem alten Thatcher-Motto „I want my money back“ sogar üppige Beitragsrabatte aushandeln. In den deutschen Medien wurden diese „sparsamen Vier“ meist als Gegner von Angela Merkel dargestellt. Das ist ein wenig zu kurz gedacht, hat diese Gruppe doch auch und vor allem Merkels eigentliche Positionen vorgetragen, die sie aufgrund der Ratspräsidentschaft als Maklerin so nicht vortragen konnte. Wie zu alten Zeiten versteckte sich Deutschland wieder hinter Hardlinern, die mit ihren Positionen den Groll des Rests der EU auf sich zogen – früher waren es die Briten, nun sind es die „sparsamen Vier“, die eigentlich die „neoliberalen Fünf“ genannt werden müssten. Der größte Gewinner heißt wieder einmal Deutschland, der große Verlierer ist wieder einmal die Solidarität. …”
Weiter:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=63106
Vor allem über die “Reformauflagen” wird das Kapital* jubeln! Die andere Klasse, inzwischen mehrheitlich massenmedial verblödet und ohne jedes Bewußtsein, wendet sich weiter von diesem Europa ab. Und so wird die gute Idee vom einigen und friedlichen Europa der Menschen zur Farce, die das politische Personal angesichts der regelmäßig geheuchelten, westlichen Werte nur noch lächerlich erscheinen läßt.
*http://www.dernewsticker.de/news.php?id=395632
Peter Nemschak
21. Juli 2020 @ 20:13
Es gibt eben noch Länder, darunter auch einige sozialdemokratisch regierte, die eine liberale Politik verfolgen. Ist doch kein Schaden für Europa.
Holly01
21. Juli 2020 @ 14:02
” von wegen “deutsche Führung” und so ”
Da hätte der Gipfel in Monaten gerechnet werden müssen …….
vlg