Der lange Schatten von Nizza
Vier Tage und vier Nächte – so lange dauerte der bisher längste EU-Gipfel in Nizza im Dezember 2000. In Brüssel wäre der Negativ-Rekord beinahe geknackt worden. Doch es gibt noch andere Parallelen.
Am Dienstagmorgen ist der EU-Finanzgipfel, der am Freitag begonnen hatte, zu Potte gekommen. Vier Tage und vier Nächte lagen hinter den 27 Staats- und Regierungschefs der EU, als sie im Morgengrauen eine „historische“ Einigung verkündeten.
Nur noch wenige Minuten fehlten, um den quälend langen Beratungen über einen Corona-Hilfsfonds und das künftige EU-Budget einen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern.
Ein „Nizza 2“ lag in der Luft – und das nicht nur wegen der Länge der Beratungen. Auch die harten Bandagen, mit denen die EU-Granden gekämpft haben, erinnern an den großen Streit vor 20 Jahren.
Damals ging es um die EU-Erweiterung und die Stimmrechte. Deutschland wollte sich unbedingt mehr Einfluß verschaffen – und die bisher gültige Stimmenparität mit Frankreich überwinden.
Schröder und Chirac brachten zwar mit Ach und Krach eine Einigung zustande – doch sie stellte niemand wirklich zufrieden und mußte später nachgebessert werden.
Der Verfassungsvertrag, der auf „Nizza“ folgte, scheiterte wenige Jahre später in einem Referendum in Frankreich. Das löste die erste große Krise der EU im neuen Jahrhundert aus.
Ganz ähnlich könnte es auch nun wieder kommen. Kanzlerin Merkel gibt sich zwar optimistisch. Europa habe Handlingsfähigkeit bewiesen, sagte sie nach dem Gipfel-Marathon.
Zufrieden sein können aber eigentlich nur die „Frugal Four“, die geizigen vier EU-Länder Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden.
Sie haben Zuwachs bekommen – Finnland schloß sich dem Club der Nettozahler an. Und sie haben sich in vielen wichtigen Punkten durchgesetzt und die Antwort auf die Coronakrise geschwächt.
So wurden die Zuschüsse aus dem Wiederaufbau-Fonds von geplanten 500 auf 390 Mrd. Euro gekürzt. Das ist ein Minus von 22 Prozent – Merkels rote Linie lag eigentlich bei 400 Mrd. Euro.
Das Ergebnis wird weh tun
Doch damit nicht genug: Die Geizkragen haben das EU-Budget weiter geschwächt, z.B. durch noch höhere Rabatte. Außerdem setzen sie Kürzungen bei Forschung, Studentenaustausch und anderen wichtigen Programmen durch.
Merkel hat sich nicht dagegen gestemmt, sondern den Niederländer Rutte ungestört agieren lassen. Deshalb könnte der Finanzgipfel auch politisch zu einem „zweiten Nizza“ werden.
Es hat zwar eine Einigung gegeben. Doch diese Spätgeburt dürfte weh tun und kaum Probleme lösen – genau wie vor 20 Jahren.
Die vergangenen Tage haben bereits gezeigt, dass die Entscheidungsprozesse keinen Deut besser sind als damals in Nizza. Es ist eher noch schlimmer geworden…
Siehe auch „Wie krank ist die EU wirklich?“ und „Eine hoffnungslos zerstrittene Union“
European
21. Juli 2020 @ 17:35
Erst wollten alle Überschüsse machen und lernen jetzt sehr langsam und mühsam, dass das nicht geht. Dann wollten alle keine Schulden machen, was in unserem Geldsystem schon gar nicht geht. Jetzt wollen alle Rabatte haben und es stellt sich die Frage, wann sie feststellen werden, dass das auch nicht geht.
Was sich gerade rächt, ist die fortwährende politische Unehrlichkeit. Sie fällt allen auf die Füße und man versucht, sich da herauszuwinden. Die jahrelange Austerität war mehr als ein Fehler, sie ist Teil des Problems, das gerade behandelt werden muss. Hätten wir Deutschen wissen müssen – Stw. Brüningsche Deflationspolitik – aber vielleicht hat man das im Osten nicht so gelernt. Weiterhin hat man erfolgreich die Bürger Europas gegeneinander ausgespielt. Erst alle gegen die Griechen, nun gegen den Süden im Allgemeinen. Alle leben schließlich nur von UNSEREM Geld uvm. Der Ton auch in den Medien ist teilweise niveaulos und völlig faktenfrei.
Länder können nicht wettbewerbsfähig sein. Firmen sind es und die sorgen meist von allein dafür, weil sie ein ureigenes Interesse haben. Die neoliberale Politik schon vor und erst recht seit der Finanzkrise hat Europa erodiert und einen Scherbenhaufen hinterlassen. So sehr, dass die extremen Lager davon profitieren.
Man wird sehen, wie sich dieser RecoveryFund entwickelt. Salvini wetzt derweil die Messer und trifft mit seinen Argumenten den Nerv vieler entnervter Italiener. Und so ganz Unrecht hat er leider nicht. Es fällt mir schwer, das einzugestehen.
Holly01
21. Juli 2020 @ 19:39
@ European:
So lange es die Presse und die Parteien nicht wagen den „Sparvorgang“ als das zu benennen, was es ist, also Umverteilung von Unten nach Oben, so lange ist das alles nur eine Veralberung.
Heute entscheiden Leute die so viel Geld haben, das sie nicht wissen wohin damit über gesellschaftlich elementare und existenzielle Inhalte im Alleingang.
Das ist so, weil man den Reichen die Erbschaftssteuer schenkt (lächerlich, was da mit Schenkungen und Stiftungen abläuft), die Vermögenssteuern und die Einkommenssteuern genau so senken wie die Steuern auf Veräusserungsgewinne und damit die Staaten ruinieren.
Dann kommt die Politik und erzählt von der nicht Finanzierbarkeit des Gemeinwesen und verkauft nicht nur alle gesellschaftlichen Werte weit unter Wert, sondern kürzt den Sozialtransfer auf ein Minimum.
Ergänzend lässt das dämliche Pack die Infrastruktur verfallen und schwadroniert von exorbitanten Kosten und verscherbelt das Zeugs auch noch oder noch besser geht „Partnerschaften“ ein. Da werden gesellschaftliche Vermögen dann vermietet und zur Ausbeutung frei gegeben.
Ja, klar, das merkt ja auch keiner ……..
Genau wie den rechtsfreien Raum, in dem sich die Reichen bewegen.
Haftung? BER? Cum Ex? Nein natürlich nicht, aber hunderte Millionen verschenken für Maut.
Die plündern die Gesellschaften und die Staaten systematisch aus.
Und „die“ kann man klar benennen. Das ist das Pack, das ganz oben den Rahm abschöpft und die Politiker tanzen lässt.
Da ist es auch kein Trost, das es allen Ländern im Hegemonialbereich so geht.
Also scheinen die 0,01% auch nur Sklaven der Hegemonie zu sein.
Obwohl …. bisher haben es die Amis immer geschafft mehr zu verschleudern, als die Welt heranschleppen kann ….
vlg
European
22. Juli 2020 @ 12:16
Ich kann Ihnen nur zustimmen.
Das DIW hat für Deutschland dazu gerade eine Studie veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die Vermögensverteilung noch viel ungerechter ist, als bisher angenommen.
https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.793785.de/20-29-1.pdf
Niemand wird das antasten. Ökonomen wie Lars Feld fordern schon wieder Lohnzurückhaltung, was noch für weitere Verwerfungen in Deutschland, niedrigere Altersversorgung und größere Schieflagen in Europa sorgen wird. Die Unterbietungsmaschinerie soll also wieder in Gang gesetzt werden.
Trickle-down hat noch nie funktioniert. Die Pferde werden nur fetter, aber es gibt nicht mehr Pferdeäpfel.
Passend dazu:
“There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.”
Warren Buffett
Holly01
22. Juli 2020 @ 19:41
@ European:
Buffed hat gerade 60 Mrd. an Bill Gates für seine Stiftung verschenkt.
Ich denke, wenn eine Anleger Ikone wie Buffed keine bessere Möglichkeit sieht mit Geld umzugehen, als es zu verschenken, ist das ein guter Hinweis darauf, wie sehr alles stinkt.
Zu diesen Studien möchte ich nur (wieder einmal) darauf hinweisen, dass es für Deutschland KEINE belastbaren Daten gibt.
Der Staat erhebt keine Daten und will das offensichtlich auch nicht.
Was veröffentlicht wird sind nur Schätzungen oder die Auswertung von freiwilligen Auskünften von wenig repräsentativen Befragungen.
In Deutschland kann man nicht einmal das Vermögen der breiten Masse bestimmen, die sich aus den Sozialsystemen ergibt.
Selbst die Summe dieser oder ähnlicher Ersatzsysteme wie Pensionsfonds usw ist nicht abzuschätzen.
Wir haben nämlich nach 2008/9 die Bilanzregeln geändert ist da ist eine große Menge Schein, beim überschaubaren Sein ….
Nein, die deutsche Elite lässt nicht locker.
Die treiben das so lange, bis die Leute denen auf den pelz rücken, so wie das gerade in den USA passiert.
Da sind die Eliten auch ganz “erstaunt” und hauen ab, in Ihre Trutzburgen.
Es würde mich nicht überraschen, wenn die alles was man in Überseecontainern verpacken kann schon lange aus den USA raus geschafft hätten.
Die warten ganz sicher nicht ob ein neuer Roosevelt kommt und ihnen Gold verbietet und die Vermögen besteuert.
Die machen was sie immer machen, die huschen ins Dunkle und horten da die Beute …..
vlg
Ute Plass
21. Juli 2020 @ 14:32
@ebo: „Die vergangenen Tage haben bereits gezeigt, dass die Entscheidungsprozesse keinen Deut besser sind als damals in Nizza. Es ist eher noch schlimmer geworden…“
Das bestätigt der folgende Nachdenkseiten-Beitrag:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=63106#more-63106
„Alleine der Begriff „sparsame Vier“ ist schon eine geschickte PR-Kampagne. Anders als beispielsweise der Begriff „geizig“ ist der Begriff „sparsam“ ja eigentlich positiv konnotiert. Es überrascht daher nicht, dass der Begriff „sparsame Vier“ auf einen Aufsatz zurückgeht, den der österreichische Kanzler Sebastian Kurz als Gastartikel in der Financial Times platzierte, um die gemeinsame Linie seines Landes und der Staaten Niederlande, Dänemark und Schweden während des EU-Budgetstreits im Februar dieses Jahres zu vermitteln. Der Begriff geht also auf einen der maßgeblichen Akteure der „sparsamen Vier“ zurück und ist somit eine eigentlich ziemlich leicht als solche erkennbare PR-Aktion. Um so unverständlicher ist es, dass nahezu alle deutschen Medien diesen PR-Begriff heute 1:1 unkritisch übernehmen.“
Holly01
21. Juli 2020 @ 14:08
@ GS:
Die EU erzeugt Zahlungsströme, von denen zB Deutschland durch seine Exportüberschüsse und die damit verbundenen Auslandsguthaben / Zinsen profitiert.
Es gibt in Schland zudem eine sehr gut funktionierende Steuervermeidung, um die sich auch keiner kümmert.
Also geschenkt wird da nix. Im für die anderen besten Fall, wird da etwas und geringfügig ausgeglichen.
KKR hat sich nicht in die Medien eingekauft, um besser zu informieren oder Kapitalismuskritik oder Kritik an Neoliberalen zu fördern.
Keine Sorge, die deutschen Reichen bekommen schon ihren teil vom Kuchen, sonst würde Merkel aber Mal „so richtig steil gehen“ ^^
vlg
GS
21. Juli 2020 @ 12:22
Was wollt Ihr eigentlich? Hier werden 390 Milliarden Euro verschenkt. Schulden- und Transferunion sind da. Und Ihr bekommt immer noch nicht genug?
ebo
21. Juli 2020 @ 12:39
Verschenkt wird gar nichts. Die Hilfen sind mit Reformauflagen und anderen Konditionen versehen worden.
Im übrigen gab es immer schon Transferleistungen aus dem EU-Budget. Auch Schulden sind nichts völlig Neues – nur die Dimension ist eine andere – dank Frau von der Leyen, die sich anders nicht mehr zu helfen wußte…