Kein Glückwunsch für Putin, kein Druck von Baerbock – und EU goes TikTok
Die Watchlist EUropa vom 19. März 2024 – Heute mit Doppelstandards bei Russland, Doppelbotschaften zu Gaza und Doppelstrategien bei Social media.
Wenn es um Wahlen geht, ist die EU eine gute Adresse. Schließlich schickt sie Wahlbeobachter in die halbe Welt, europäische Wahlen gelten als vorbildlich. Doch nach der Präsidentschaftswahl in Russland bekommt dieses positive Image einige Kratzer.
Denn die EU hat Partei ergriffen – für den in Haft verstorbenen Regimekritiker Nawalny, gegen Kremlchef Putin, dem sie nicht einmal gratulieren wollte. Schon vor Beginn der mehrtägigen Abstimmung äußerte sich Ratspräsident Michel abfällig über Wladimir Wladimirowitsch.
“Ich würde Wladimir Putin gerne zu seinem Erdrutschsieg bei den heute beginnenden Wahlen gratulieren”, schrieb der Belgier im Onlinedienst X. “Keine Opposition. Keine Freiheit. Keine Auswahl”, fügte Michel hinzu. So sarkastisch hat noch nie ein EU-Chef kommentiert.
Nach der Wahl machte sich niemand in Brüssel die Mühe, das Ergebnis in Ruhe zu analysieren. Die Rekord-Wahlbeteiligung wurde ebenso wenig in Betracht gezogen wie die – im Krieg nicht unwichtige – Frage, wie viele Russen wirklich hinter Putin stehen.
Das Urteil stand schon fest: Die Abstimmung sei weder frei noch fair gewesen, sagte der EU-Außenbeauftragte Borrell in Brüssel. “Die Wahlen in Russland waren Wahlen ohne Wahl”, erklärte Außenministerin Baerbock in dem für sie typischen verquasten Deutsch.
Das kann man so sehen. Zu Putin gab es keine echte Alternative. Alle Kandidaten, die sich gegen den Krieg in der Ukraine stellen, wurden ausgeschlossen. Die verbliebenen Politiker waren Zählkandidaten, die für ein demokratisches Mäntelchen sorgen sollen.
Andere Regeln bei Alijew und Erdogan?
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Allerdings wäre die EU glaubwürdiger, wenn sie in anderen, vergleichbaren Ländern dieselben Standards anwenden würde. Doch das tut sie nicht. So wurde die Präsidentschaftswahl in der Türkei im Mai 2023 zwar als unfair kritisiert, das Ergebnis jedoch nicht angezweifelt.
Auch die Präsidentschaftswahl in Aserbaidschan am 7. Februar ging ohne ätzende Kommentare aus Brüssel über die Bühne – obwohl Machthaber Ilham Alijew mit angeblich 92,5 Prozent der Stimmen noch „besser“ abschnitt als Putin. Der EU-Michel hat Alijew sogar gratuliert!
Ist Alijew sympathischer, weil er EUropa mit Gas versorgt – auch wenn er fast eine Million Armenier aus Bergkarabach vertrieben hat? Und ist Erdogan demokratischer, weil sein Land in der Nato ist – auch wenn es völkerrechtswidrig ganze Regionen in Nordsyrien besetzt?
Und was ist mit der Ukraine, wo überhaupt nicht gewählt wird, obwohl Präsident Selenskyj doch angeblich unsere Werte vertritt? Wenn Wahlen nur noch durch die geopolitische Brille betrachtet werden, kann die EU ihren guten Ruf als unparteiischer Beobachter vergessen, fürchte ich…
Siehe auch “Russlands Kriegswirtschaft boomt”
P.S. Eine weitere wichtige Frage ist, was die Nichtanerkennung der Wahl strategisch bedeutet. Schließt die EU damit de facto oder sogar de jure jedwede Verhandlung mit Putin aus, weil er kein legitimer Präsident mehr sei? Will Brüssel am Ende sogar einen Regimewechsel in Moskau?
News & Updates
- Gaza-Krieg: Baerbock gegen Borrell. Der Krieg in Gaza wird nun auch in Brüssel ausgetragen: Mit Worten. Außenministerin Baerbock und EU-Chefdiplomat Borrell reden mit Verve gegeneinander an. Die deutsche Grüne will immer noch keinen Druck auf Israel machen – auch wenn Gaza laut Borrell immer mehr einem “Freiluft-Friedhof” gleicht… – Blogpost hier
- Sanktionen gegen radikale Siedler. Die EU will erstmals Sanktionen gegen radikale israelische Siedler im Westjordanland verhängen. Darauf haben sich die Außenminister verständigt. Die Strafmaßnahmen müssen nun noch formalisiert werden. Es geht allerdings nur um eine Handvoll Siedler, sie sollen nicht mehr in die EU reisen dürfen…
- Investitionsbank soll beim Krieg helfen. Die Militarisierung der EU zieht sich durch alle Bereiche. Nun soll auch die bisher rein zivile Europäische Investitionsbank EIB Geld in den sog. Sicherheits- und Verteidigungssektor stecken. Dafür haben sich Deutschland und 13 weitere EU-Länder ausgesprochen. Sie wollen sogar das EIB-Mandat ändern!
Das Letzte
Europaparlament goes TikTok. Die EU-Institutionen haben die dienstliche Nutzung der umstrittenen chinesischen App verboten – man hat Sicherheitsbedenken. Doch das hindert das Europaparlament nicht daran, fleißig selbst kleine Filmchen zu drehen, die dann auf TikTok verbreitet werden. Fast 200 Abgeordnete sind dort aktiv. Vor allem zur Aufklärung rund um die Europawahl sei das sinnvoll, heißt es in der Straßburger Kammer. Schließlich müsse man der “Desinformation” durch andere User entgegentreten. In Wahrheit dürfte es aber vor allem darum gehen, AfD & Co. zurückzudrängen – denn die Rechten sind auf dieser und anderen “social media” nicht nur besonders aktiv, sondern auch verdammt erfolgreich. Was wiegen dagegen schon die Sicherheitsbedenken….?
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Helmut Höft
21. März 2024 @ 08:30
Jaja, wenn der Wertewesten® echte Demokratie hätte (es folgen ca. 1 km lange Bücherregale) und wir demokratische Wahlen hätten (und noch’n paar Meter Bücherregal) dann sähe hier vieles anders aus.
european
19. März 2024 @ 11:08
Naja, wenn Steinmeier Putin zur Wahl gratuliert, landet er postwendend auf Selenskyj’s Todesliste aus dem Musterland der Demokratie, wo überhaupt keine Wahlen stattfinden. Und Michel soll grade still sein. Ursprünglich wollte er sich ja zur EU – Parlamentswahl stellen und urplötzlich blieb er lieber da wo er ist. Warum wohl? Die deutsche Berlin-Wahl war verfassungswidrig und musste wiederholt werden und die Bundestagswahl in Berlin musste teilweise wiederholt werden. Über die Pseudowahl der EUCO-Präsidentin wurde hier schon oft geschrieben. Geht man nach ihren Umfragen, würde sie in einer demokratischen Wahl nicht wiedergewählt. Also, worüber regen wir uns eigentlich auf?
Die Taurus-Geschichte dürfte Putin nochmal einen Schub verpasst haben, ebenso, wie zuvor die Sanktionspolitik, die Diffamierung russischer Bürger, Studenten, Künstler etc.
Der Westen trommelt für Krieg und meiner Ansicht nach hat es etwas mit dem Niedergang des westlichen Modells zu tun. Der Westen isoliert nicht, der Westen wird isoliert. Jedes Land auf seine Weise und Krieg lenkt wunderbar von den Problemen ab, für die viele aktuell keine Lösung haben.
KK
19. März 2024 @ 16:08
Sorry, wenn ich hier antworte, aber Antworten geht offenbar noch, bei eigenen Kommentaren bekomme ich heute ständig Fehlermeldungen:
Glauben die westlichen Demokratien denn, mit ihren sinkenden, sich vielerorts je nach Wahl auf 50% zu bewegenden Wahlbeteiligungen sind sie hinsichtlich des Wählerrückhalts besser legitimiert?
Was ist ein Zuspruch von knapp über 50% der Wahlteilnehmer wert, wenn 30-40% oder noch mehr der Wahlberechtigten in einer Wahl keinen Sinn sehen, gar nicht erst teilnehmen – und damit allen Kandidaten ihr Vertrauen verweigern?
Wird hier nicht immer stolz berichtet, wenn in vorgeblichen “Schein-Demokratien” die jeweilige “Opposition” zum Wahlboykott aufruft, um die Wahlen wegen geringer Teilnahme zu deligitimieren? Wie sieht es mit der Legitimation unserer Regierungen aus, wenn sie nur den Rückhalt von rund 30% der Bevölkerung haben? Putins Rückhalt in der Gesamtbevölkerung ist selbst nach Einschätzunng westlicher Korrespondenten ungleich höher, nur innerhalb junger Bevölkerungsteile einiger Grossstädte mag das etwas anders aussehen.
Bei den EUropawahlen dieses Jahrtausends sind 2019 erstmals nach vorher stetig sinkender Wahlbeteiligung mit 50,66% überhaut mehr Wahlberechtigte zur Wahl gegangen als daheim geblieben – wohl, weil sie sich mit den sogenannten “Spitzenkandidaten” erstmals einen wirklichen Einfluss erhofft hatten (übrigens: 2004 45,47%, 2009 42,97% und 2014 42,61%).
[Quelle: https://www.europarl.europa.eu/election-results-2019/de/wahlbeteiligung/%5D
Ich bin auf die Wahlbeteiligung in 2024 ehrlich gespannt!
Godfried van Ommering
19. März 2024 @ 09:48
Tagesschau:
18.03.2024 • 22:36 Uhr
Michel: Für Frieden muss sich Europa auf Krieg vorbereiten
Um Frieden zu haben, muss sich Europa nach Worten von EU-Ratspräsident Charles Michel auf Krieg vorbereiten. Europa müsse seine Verteidigungskapazitäten stärken und als Reaktion auf die von Russland ausgehende Bedrohung in einen “kriegswirtschaftlichen” Modus wechseln, schreibt Michel in einem Artikel, der in europäischen Zeitungen und auf der Euractiv-Website veröffentlicht wurde. Europa müsse die Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen, so Michel. “Wenn die EU nicht richtig reagiert und die Ukraine nicht ausreichend unterstützt, um Russland aufzuhalten, sind wir die Nächsten. Wir müssen daher verteidigungsbereit sein und in einen ‘Kriegswirtschafts’-Modus übergehen”, schreibt Michel. “Wenn wir Frieden wollen, müssen wir uns auf den Krieg vorbereiten.”
Über solche Entblößungen der Euro-politischen Klasse sollte es zum Zusammenschluss der Vernünftigen aller Länder in Europa kommen, der zu Europa-weiten Massen-Streiks führen müsste, die Michel und Co zum Rücktritt zwingen würden. Es wird immer deutlicher – man lese nur die Anti-Putin und Anti-Russland, – und die Pro-Rüstung – Äußerungen der letzten Tage – daß die herrschende politische Klasse den Krieg mit Russland will, und ihn seit Jahren vorbereitet.
Skyjumper
19. März 2024 @ 09:46
Wenn ich richtig mitgezählt habe, war dass die 5. Wahl zur russischen Präsidentschaft. Seit der 2. Wahl ähneln sich die vom Westen geäusserten Bedenken in Hinsicht auf massive staatliche Propaganda zu Putin’s Gunsten im Wahlvorfeld und zu wenige chancenreiche Gegenkandidaten.
Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass der Westen bei den vergangenen Wahlen auch nur annährend gleich ablehnend reagiert hätte. Für die Feststellung einer westlichen Doppelmoral muss man also nicht einmal Vergleiche zu anderen Staaten ziehen, Russland alleine reicht schon völlig aus.
Ist es diesmal undemokratischer gewesen als bei vorherigen Wahlen? Ja, ich glaube schon. Aber nicht so maßgeblich als dass die westlichen Reaktionen gerechtfertigt wären. Und wenn man einen Vergleich der Wahlbedingungen Russland vs. Deutschland zieht: Nun ja, so richtig viel besser ist es in DE auch nicht. Oder in Spanien? Wo Wahlsieger auch gerne mal verhaftet werden. Türkei und Aserbaidschan hatte @ebo ja bereits auf’s Korn genommen. Und schaut man sich die EU (als Institution) an, wirds mal ganz schlagartig finster. Da gibt es nicht einmal Scheinwahlen zur “Präsidentschaft”.