Mayhem statt Mayday
Es ist May-Day in London. Das prophezeiten die etablierten Medien am Tag der Wahl. Für sie ging es nur noch darum, wie hoch der Sieg von Premierministerin May ausfallen würde. Doch sie haben sich getäuscht – wieder einmal.
Denn Mays Herausforderer Corbyn holte mehr Stimmen, als erwartet. Für den Labour-Politiker sprachen allerdings auch einige gute Gründe:
- Er will keinen harten Brexit, sondern einen soften, sozial verträglichen Deal mit der EU.
- Er will die Bürgerrechte nicht den Terroristen und den Rechts-Populisten opfern.
- Er spricht die jungen Briten an, die nicht völlig mit Europa brechen wollen.
- Er hat eine realistische, kritische Haltung zur Rambo-Außenpolitik à la Bush & Blair.
- Er steht gegen den Neoliberalismus – und könnte damit auch die EU beeinflussen.
Gegen ihn stand der Mainstream. Die Boulevard-Presse. Und auch ein Großteil des EU-Establishments, das nach wie vor auf die Tories setzt – obwohl sie es waren, die UK verzockt und den Brexit ermöglich haben.
Doch sie alle haben sich getäuscht – wieder einmal. Sie haben, wie in diesem Blog prophezeit, auf das falsche Pferd gesetzt, wie schon vor dem Brexit-Referendum im Juni 2016.
Wie sehr die “Experten”daneben lagen, zeigt eine Projektion, die “Politico” auf einem Live-Blog zur Wahl präsentierte:
ASHCROFT PREDICTS BIG TORY MAJORITY
In a survey conducted Tuesday and Wednesday by the pollster Lord Ashcroft, that takes into account an individual’s likelihood to vote, the Conservatives are estimated to win 373 seats, giving Theresa May a majority of 96.
Aber die britischen Wahlforscher haben sich schon oft getäuscht, right?
Und so war es auch diesmal. Denn die “Exit polls” sahen ganz anders aus. May dürfte demnach ihre Mehrheit im Unterhaus verlieren. Statt May-Day heißt es nun Mayhem – Anarchy in the UK…
Peter Nemschak
9. Juni 2017 @ 12:42
@ebo Genau deshalb ist der BREXIT für die EU bedauernswert. Ein gemäßigt liberales Gesellschaftsmodell, das der Initiative und Verantwortung des Individuums Vorrang vor staatlicher Gängelung einräumt, ist doch nichts Schlechtes. Warum sollte es beim Subsidiaritätsprinzip einen Unterschied zwischen der nationalen und supranationalen Ebene geben?
kaush
9. Juni 2017 @ 11:44
@hintermbusch
Du sprichst mir aus der Seele. Wenn ich 10 Jahre älter bin und mir der Euro und Merkelismus noch genug von einem Eigentum gelassen haben, werde ich hier die Zelte abbrechen.
Ähnlichkeiten zur Deutschen Linken sehe ich schon. Da gibt es hier eine Sahra Wagenknecht, die die desaströsen Zustände anprangert und logische Alternativen anbietet. Auch sie wird vor allem von ihrer eigenen Partei wie vom Establishment bekämpft… Ok, hier enden die Parallelen.
Die Linken, die linke Politik tatsächlich auch Umsätzen wollen, sind in der Linken, wie in der SPD die absolute Minderheit. Die Mehrheit möchte einfach nur an die Fresstöpfe, oder die Hand an der Sänfte von Merkel haben…
Was machen jetzt eigentlich die Anhänger von Blair, die mit einem Verlassen der Partei gedroht haben?
GS
9. Juni 2017 @ 12:18
Da kriechen gerade einige zu Kreuze. Owen Smith, der ihn 2016 herausgefordert hatte, hat sich schon entschuldigt…
hintermbusch
9. Juni 2017 @ 13:59
Ja, das ist wunderbar zu lesen und wird von der ach-so-bösen britischen Presse regelrecht zelebriert:
http://www.telegraph.co.uk/news/2017/06/09/feeling-red-faced-labour-rebels-eating-words-benefiting-jeremy/
So weiß jeder Brite, dass seine Abgeordneten auch nur mit Wasser kochen und dem Volk keine hehren Wahrheiten zu verkünden haben :-).
Es ist in Deutschland absolut undenkbar, dass Mandatsträger so vorgeführt werden.
Oder so: http://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/170608_02.png
Hat halt nichts genützt.
hintermbusch
9. Juni 2017 @ 10:50
Es gab keinen Mayhem, sondern “Democracy at work”.
Noch nie habe ich die Briten und ihre politische Kultur so geliebt wie heute. Man möchte neidisch werden als Deutscher darüber, wie dieser Corbyn seinen Wahlkampf geführt hat mit dem gelassenen Mut desjenigen, der nichts zu verlieren hat. Ähnlichkeiten mit Politikern der deutschen “linken” Parteien sind praktisch nicht zu erkennen. Der Mann ist ein Anarchist und ein Ärgernis und seine Wähler finden das ganz OK. Hierzulande sind linke Politiker regelmäßig autoritärer als die meisten Konservativen. Linke, die der Meinung sind, dass Opposition “Mist” ist, braucht aber kein Mensch!
Das Ergebnis ist wie auf den Spitzenkandidaten zugeschnitten. Er wird den Tories wohl eine Tolerierung anbieten. Das wird garantiert lustig und womöglich ein Segen für das Vereinigte Königreich. Ich beneide sie und werde nach Wegen suchen, wie meine Kinder an britische Pässe kommen können. Ich bin voller Optimismus für dieses Land. Wäre ich 10 Jahre jünger, würde ich selbst versuchen, in UK mit anzupacken für eine liberale Gesellschaft mit demokratischem Mut statt autoritärer Unterordnung unter einen alternativlosen Weg in die totale Versteinerung.
GS
9. Juni 2017 @ 11:45
Dass Labour die Tories toleriert, glaube ich nicht, ist auch gar nicht notwendig, da May ja eine Mehrheit mit den Unionisten hat. Aber dem Rest stimme ich durchaus zu. Sowohl was die Einschätzung der Linken dort und hier betrifft als auch die Zukunft des Landes. Die sehe ich dort weitaus rosiger als bei uns.
hintermbusch
9. Juni 2017 @ 12:06
Man muss der Fairness halber dazusagen, dass die britische politische Kultur vermutlich nur auf einer Insel wachsen konnte. Selbst Dänemark ist eine Art Insel, wenn man die Sümpfe in Südjütland berücksichtigt. Stabile Gesellschaften auf einer im Prinzip offenen Landmasse dürften immer einen stark autoritären Zug aufweisen. Das ist in Russland so, in China und eben auch in Kontinentaleuropa. Aber die Bewunderung bleibt.
ebo
9. Juni 2017 @ 12:32
Wieso Bewunderung? Das britische System ist gescheitert – an der EU-Frage und an den Tories, die das Land verzockt haben und nun auch noch weiter machen dürfen, obwohl sie keine eigene Mehrheit mehr haben. Auch Labour ist gescheitert – an Blair. Dass es mit Corbyn jetzt wieder aufwärts geht, ist nur ihm zuverdanken, bestimmt nicht dem Partei-Establishment.
hintermbusch
9. Juni 2017 @ 12:52
“Das britische System ist gescheitert”
Nein, es lebt und steht immer wieder auf. Es wird die EU überleben, weil es schlank und flexibel ist. Die Briten stehen zweifellos vor harten Zeiten, haben aber gute Chancen, diese zu meistern. Ihre Prinzipien (z.B. free speech und die Parlamentssouveranität) sind gerade wieder glänzend bestätigt worden.
Der Kontinent weiß noch gar nicht, vor wie großen Problemen er steht. Die politische Klasse fühlt sich auf einem Königsweg und unterdrückt für diesen bereits massiv die freie Meinungsäußerung:
http://norberthaering.de/de/27-german/news/846-zensur-eu
Nein, nein, der Kontinent steht vor einem massiven autoritären Zerfall im Namen des Guten. Da habe ich nicht mehr die geringsten Zweifel. In UK ist dagegen der Brexit grundsätzlich unbezweifelt (auch von Corbyn) und die schottische Sezession gleichzeitig vom Tisch.
Dieses Nebenthema wird kaum erwähnt: die SNP hat eine enorme Klatsche kassiert und fast 40% ihrer Sitze verloren. Die Chancen eines 2. Referendums sind extrem gesunken.
ebo
9. Juni 2017 @ 12:58
Quatsch. May ist es, die bereits jetzt das Internet zensiert und als Nächstes die Menschenrechte ausser Kraft setzen will. Wo bleibt da die Free speech? Und wo ist die Parlamentssouveränität? Das Unterhaus war bisher klar gegen den Brexit, aber es wurde nicht mal gefragt.
hintermbusch
9. Juni 2017 @ 13:13
Natürlich wurde das Unterhaus gefragt. May wollte nicht, wurde aber dazu verpflichtet. Und das Unterhaus hat zwei Mal zugestimmt:
http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/britisches-unterhaus-stimmt-fuer-brexit
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/oberhaus-und-unterhaus-stimmen-fuer-brexit-gesetz-14923454.html
Die Mehrheit für die grundsätzliche (erste) Entscheidung war enorm, auch bei Labour.May hat auch keine Mehrheit, mit der sie irgendetwas Grundlegendes einschränken könnte. Die Ankündigung war wahrscheinlich einer ihrer schweren Fehler.
ebo
9. Juni 2017 @ 13:52
Genau. May wollte nicht, sie musste erst zur Parlaments-Befassung gezwungen werden. Und dann das (Zitat aus Ihrem Artikel):
Das Unterhaus stimmte dabei auf Wunsch der Regierung mehrheitlich gegen zwei Zusätze, die das Oberhaus der Vorlage beigefügt hatte. Sie sind damit nicht Teil des Gesetzes.
Der eine Zusatz hatte vorgesehen, dass die Regierung das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen dem Parlament zur Abstimmung vorlegen sollte; dem Parlament wäre damit ein Veto-Recht zugekommen. Der Zusatz wurde im Unterhaus mit 331 gegen 286 Stimmen abgelehnt.
May behält also freie Hand, das Parlament hat das Nachsehen…
GS
9. Juni 2017 @ 10:47
Zusammen mit den nordirischen Unionisten reicht es ja nun für die Tories doch noch knapp. May hat sicherlich das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollte. Als Regierungschefin ist sie geschwächt und vielleicht sogar auf Abruf und die Verhandlungsposition gegenüber der EU ist auch eher schwächer als vorher. Na dann, mal gucken, wie das weiter geht.
kaush
9. Juni 2017 @ 09:50
@ebo
Deine Analyse finde ich nicht sehr zutreffend.
Auch wenn Du die Abstimmung zum Brexit noch nicht verwunden hast – würde heute abgestimmt, würde das Ergebnis noch deutlicher für den Brexit ausfallen.
Eine treffende Analyse zum Wahlausgang lieferte Telepolis:
https://www.heise.de/tp/features/Auszaehlungskrimi-im-UK-3739315.html
Kurz zusammengefasst: Demenzsteuer und Polizistenstellen
https://www.heise.de/tp/features/Hate-Speech-Hubschraubereinsatz-statt-Terroristenueberwachung-3735862.html
Das britische Wahlvolk ist bei weitem nicht so einfach für dumm zu verkaufen wie das deutsche – und auch nicht so phlegmatisch.
Nur die dümmsten Kälber…
ebo
9. Juni 2017 @ 10:05
@kaush Da hast Du mich wohl falsch verstanden. Ich habe die Abstimmung zum Brexit nie bedauert, im Gegenteil: Schon vor dem Referendum habe ich in diesem Blog geschrieben, warum UK besser austreten würde! Ich gehöre auch nicht zu denjenigen, die nun eine Chance wittern, den Brexit rückgängig zu machen (wie viele deutsche EU-Politiker). Nein, man sollte den Volksentscheid respektieren und nun endlich in Verhandlungen einsteigen, anstatt sich ständig von den Tories an der Nase herumführen zu lassen. Das geht nämlich schon seit mehr als einem Jahr so – erst mit Cameron, dann mit May!
Peter Nemschak
9. Juni 2017 @ 12:34
Nachdem die Zeit gegen das UK arbeitet, kann sich die EU getrost Zeit lassen. Welchen Vorteil würden sich die Tories versprechen, wenn sie die EU an der Nase herumführten? Den Parteien, egal welchen, geht es doch bloß um nationale Stimmenmaximierung. Diesmal haben sich die britischen Konservativen verrechnet, weil das irregeleitete Volk unsicher geworden ist, ob der BREXIT überhaupt eine gescheite Idee war und unter den gegebenen Umständen zumindest eine Schadensbegrenzung wünscht.
Peter Nemschak
9. Juni 2017 @ 06:49
Die britischen Bürger sollten sich den BREXIT nochmals gut überlegen. Auch das Volk kann wie jeder einzelne irren und gescheiter werden. Das macht die Demokratie anderen Regierungssystemen überlegen.
Claus
9. Juni 2017 @ 08:59
@Peter Nemschak: Was sich dann unendlich fortsetzen ließe, je nach Tagesstimmung?
ebo
9. Juni 2017 @ 09:03
@Claus Ja, so sind sie, unsere Eliten: Kaum geht eine Wahl nicht nach Plan aus, wollen sie zurück zu Mutti 🙂
Peter Nemschak
9. Juni 2017 @ 10:13
Wenn Sie noch nie gescheiter geworden sind, sind Sie zu bedauern.
Alexander
8. Juni 2017 @ 23:48
Ach ja: Dass Allerwichtigste bei demokratischen Wahlen wurde hier überhaupt noch nicht erwähnt: Wie reagieren “die Märkte”?
ebo
9. Juni 2017 @ 09:01
@Alexander So: Der Verlust der absoluten Mehrheit für die britische Premierministerin Theresa May hat das Pfund Sterling auf Talfahrt geschickt. Die Währung verbilligte sich am Freitag um bis zu 2,2 Prozent auf 1,2663 Dollar. Das war der tiefste Stand seit dem 18. April, als May überraschend die vorgezogenen Wahlen ausgerufen hatte.
Peter Nemschak
9. Juni 2017 @ 14:29
Londoner Börse eher freundlich.
Alexander
8. Juni 2017 @ 23:44
Die positiven Prognosen dürften den Tories aber einige Extrastimmen beschert haben? Oder gilt nicht mehr, dass unentschlossene Wähler dazu tendieren, sich dem Lager des vermeintlichen Siegers anzuschließen?
hintermbusch
9. Juni 2017 @ 10:29
“Oder gilt nicht mehr, dass unentschlossene Wähler dazu tendieren, sich dem Lager des vermeintlichen Siegers anzuschließen?”
Das gilt ganz gewiss noch – in Deutschland. In liberalen Gesellschaften ist das eher weniger ein Kriterium. Das zeigen die Ergebnisse für die LibDems.
GS
8. Juni 2017 @ 23:37
Okay, ebo, da hast Du wohl kürzlich zurecht geunkt. Ich hab das nicht erwartet. Aber es im Prinzip keine schlechte Neuigkeit, dass auch Anti-Blairs sich gut schlagen können.