Im Schatten der Ukraine

Die Europawahl steht nicht nur im Zeichen der Wirtschaftskrise. Sie wird auch von einem zweiten, mächtigen Motiv überlagert: Der Ukraine-Krise und dem daran geknüpften neuen Feindbild Russland. Beides könnte den europäischen Konservativen um Kanzlerin Merkel nützen.

Wie eine dunkle, drohende Gewitterwolke steht diese Krise über der Europawahl. Dies ist durchaus wörtlich zu verstehen – schließlich findet die Präsidentschaftswahl in der Ukraine am letzten Tag der Europawahl statt.

Am Wahlabend werden wir daher nicht nur mit den Abstimmungsergebnissen aus Berlin, Paris und Athen, sondern auch aus Kiew, Odessa und vielleicht sogar Doneszk konfrontiert werden.

Die Ukraine-Krise überschattet nicht nur den Europa-Wahlkampf, sie dürfte auch das Hauptthema beim Sonder-EU-Gipfel zwei Tage nach der Wahl in Brüssel sein.

Mehr noch: Wenn die Präsidentschaftswahl in der Ukraine nicht rund läuft, dürfte es schnell zu einer neuen, diesmal wirklich ernsten Sanktionsrunde gegen Russland kommen.

Darauf haben sich EU und USA schon in der vergangenen Woche geeinigt – ganz ohne Rücksicht auf Schulz, Juncker und die anderen Wahlkämpfer in Europa. Die Ukraine ist wichtiger als die Wahl, so die unterschwellige Botschaft.

Und so findet die angeblich wichtigste Abstimmung Europas in einem merkwürdigen Zwielicht statt. Das für die meisten Bürger zentrale Thema, die Wirtschaftskrise, wird in einer klebrigen Konsenssauce ertränkt.

Die zentralen Fragen – wie geht es weiter mit Griechenland, kommt es doch noch zu einem Schuldenschnitt, droht Europa eine langanhaltende Stagnation oder gar eine gefährliche Deflation – werden gar nicht erst gestellt.

Die Europäische Zentralbank hat alle Entscheidungen vorsorglich auf den Juni vertagt, vor der Wahl passiert gar nichts.

Gleichzeitig werden die Wähler vom Konflikt in der Ukraine im Bann gehalten. Die EU spielt dabei eine merkwürdige Doppelrolle: einerseits präsentiert sie sich wie eh und je als Friedensmacht, die das Schlimmste verhindern will.

Andererseits arbeiten viele EU-Politiker bewusst oder unbewusst an und mit dem Feindbild Russland, gelegentlich sogar mit der Kriegsangst, um sich Gefolgschaft zu sichern und andere Debatten – etwa über die Wirtschafts- und Sozialpolitik – zu verhindern.

Kanzlerin Merkel gehört zwar nicht zu den Hardlinern. Doch ihr kommt es sehr zupass, dass sie nicht mehr von der Eurokrise und ihren enormen Folgekosten sprechen muss.

Angst vor der Arbeitslosigkeit, Angst vor dem Krieg – das sind zwei mächtige Motive, die eine wirklich offene und freimütige Debatte bei dieser Wahl verhindert haben.

Dies ist die gekürzte und aktualisierte Fassung eines Beitrags, den ich auf Cicero online veröffentlicht habe. Das Original steht hier, Teil eins steht hier