House of Cards in Straßburg
Es läuft nicht gut für die deutsche Kandidatin für die Europäische Kommission. Kurz vor der entscheidenden Abstimmung am Dienstag in Straßburg gleicht das EU-Parlament einem Kartenhaus. Eine falsche Bewegung, und alles bricht zusammen.
Von der Leyen wird mit immer neuen Forderungen konfrontiert. Die einen wollen Geld, die anderen Posten, wieder andere möchten durch die Hintertür ihr Wahlprogramm umsetzen. Man erwarte bis Montagabend eine verbindliche Antwort, heißt es bei Sozialdemokraten und Liberalen, andernfalls könne man die Kandidatin leider nicht wählen.
All das zeigt, wie hoch gepokert wird, und wie knapp die Abstimmung werden könnte. Nicht nur die designierte Nachfolgerin von Kommissionschef Jean-Claude Juncker muß zittern – auch die Abgeordneten spielen mit hohem Einsatz und harten Bandagen.
Es geht um viel, sehr viel: Um die Leitung der Europäischen Kommission in den nächsten fünf Jahren. Um die Frage, wie es mit der Demokratie in der EU bestellt ist – Stichwort Spitzenkandidaten. Um die Macht in Brüssel: Das Parlament und der Rat, die Vertretung der 28 EU-Staaten, liefern sich einen Machtkampf. Und um die Macht in Berlin – von der Leyens Benennung hat eine Krise in der Großen Koalition ausgelöst.
Manch einem Abgeordneten geht es aber auch einfach nur darum, seinen Frust über den „Coup“ der Staats- und Regierungschefs abzulassen – und Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron einen Denkzettel zu verpassen. Beide hatten den Deal eingefädelt und die Spitzenkandidaten übergangen.
Am lautstärksten macht Manfred Weber seinem Unmut Luft. Der gescheiterte Frontrunner der konservativen EVP sieht sich als Opfer einer Verschwörung. „Mächtige Kräfte wollten das Wahlergebnis nicht akzeptieren“, sagt er. Macron und Viktor Orban aus Ungarn hätten sich abgesprochen.
Schwere Vorwürfe macht der CSU-Politiker auch seinen Kollegen. “Die Tatsache, dass Sozialdemokraten und Liberale im Europaparlament nicht den Führungsanspruch der stärksten Partei, nämlich der EVP, akzeptiert haben, hat das Parlament geschwächt“, sagte Weber.
Doch Von der Leyen muß mit diesem Parlament leben, sie muß nach vorn blicken. Die CDU-Politikerin setzt auf ihre „bewährte“ Masche – und redet mit den Abgeordneten, als sei sie die verständnisvolle Obermutter. „Ich bin in Brüssel geboren und freue mich, europäische Luft zu atmen“, lautet ihre Standardformel. Danach sagt sie jedem, was er oder sie hören will, ohne sich festzulegen.
Zunächst sieht es so aus, als könne sie damit durchkommen. Von der Leyen könne sich inhaltlich nicht weit aus dem Fenster lehnen, räumt SPD-Europapolitikerin Katarina Barley ein. “Sie muss irgendwo im Vagen bleiben.“
Doch am Mittwochabend schlägt die Stimmung um. Das Signal geben die Grünen. Nach einer viel beachteten Anhörung, die via Internet öffentlich gemacht wird, schlagen sie die Tür zu. „Entscheidung der Grünen Fraktion! Wir werden gegen von der Leyen stimmen“, kündigt der grüne Finanzexperte Sven Giegold an.
Auch bei der EVP gibt es Unzufriedene
Danach überschlagen sich die Ereignisse. Auch bei den Konservativen gebe es Unzufriedene, die mit Nein stimmen könnten, heißt es plötzlich. Von den 182 Abgeordneten der EVP könnte ein Dutzend ausscheren, sagt ein Insider. Die Wahl ist geheim, einen Fraktionszwang gibt es nicht.
Auch bei den Liberalen grummelt es. Sie schicken einen Brief an die Kandidatin. Darin fordern sie einen verbindlichen Mechanismus zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit – sowie die Zusage, eine große Reform-Konferenz abzuhalten, um die Demokratie zu stärken.
Dass die Sozialdemokraten auch noch einen saftigen Wunschkatalog aufgestellt haben, macht die Sache nicht besser. Sie fordern auf fünf eng bedruckten Seiten eine umfassende „Agenda for Change“.
Knackpunkt Klimaschutz
Zu sozialdemokratischen Kernanliegen kommen auch einige grün anmutende Forderungen. So soll die künftige EU-Kommission zusagen, die Treibhausgase bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. Derzeit liegt das EU-Ziel bei 40 Prozent. Von der Leyen hat bei den Anhörungen 50 Prozent ins Spiel gebracht – doch schon das ist manchen in CDU und CSU zu viel.
Am Klimaschutz war schon die „große Koalition plus“ gescheitert, die die EVP, die Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen schließen nach der Europawahl wollten. Und nun soll von der Leyen die Probleme mit einem Federstrich lösen?
Das kann eigentlich nur schief gehen: Sie sei auf einer „Mission impossible“, sagt ein Europaabgeordneter.
Teil 2 steht hier
JvB
15. Juli 2019 @ 13:42
Ihr Guten,
macht euch keine Illusionen. Sie wird gewählt werden. Ihr habt verloren. Bereitet euch auf koloniale Abenteuer in Afrika vor, der verlorene Algerienkrieg, Indochina, usw, das reicht längst nicht. Denkt an die latent hohe Arbeitslosigkeit in den „Südstaaten“, denkt an die Gelbwesten, denkt an die Unzufriedenheit vieler Franzosen (da gibt s ja offenbar zwei Länder in einem) – all das verlangt nach Lösungen. Was meinen Sie denn, weshalb M. in den Weltraum zielt? Weshalb brauchen wir eine „Europaarmee“ weshalb versuchen gerade die Franzosen, die Briten aus der EU zu drängen? Was meinen Sie denn? PS: so gesehen – den verlorenen Zweiten Weltkrieg erwähne ich hier nicht. Deshalb sind wir ja „Freunde“. Es wird sehr teuer, denken Sie an die Nullzinspolitik der EZB. Ja, und das alles müssen wir jetzt auch noch bejubeln
Peter Nemschak
15. Juli 2019 @ 14:50
Macron geht den richtigen Weg. Europa darf nicht länger Trittbrettfahrer bei einem immer schwächer werdenden Hegemon USA, der zunehmend nur eigene Interessen verfolgt, sein. Warum sollen die USA in Zukunft europäische Interessen im Mittelmeer gegen die Türkei verteidigen? Auch die NATO wird in Zukunft durch die Politik der USA keine verlässliche Stütze für die Sicherheit der EU mehr sein. Ein falsch verstandener utopischer Pazifismus bedeutet Verantwortungslosigkeit in der realen Welt.
zykliker
15. Juli 2019 @ 11:39
man stelle sich nur mal für ein paar Augenblicke vor, es wäre anders:
die Abgeordneten sind sich ihrer Bedeutungslosigkeit bewußt, bleiben staatstragend ruhig, wissend, daß sie in einem bleiernen System nichts zu melden haben.
Sie sitzen in ihrer “Großen Halle des Volkes,” applaudieren artig den Erleuchteten, und nicken deren Agenda kommentarlos ab. Sie haben weder sachpolitische noch persönliche Ambitionen. Vor der wichtigsten Abstimmung über die Besetzung des Postens des ersten Sekretärs des Zentralkommitees (es gibt wie üblich nach Intervention durch das Politbüro keinen Gegenkandidaten) dürfen einige für die Fernsehshow devote Fragen stellen, von der Art wie: “was ist ihr Lieblingsgericht?” oder “können Sie sich vorstellen, zu Bouillabaisse auch einmal alkoholfreies Bier zu trinken?” (nein, diese Frage wurde nicht zugelassen – “nastarowje” – umformuliert in ” … einmal Vollkornbaguette zu essen?”)
Huldvolle Antworten, ergebene Dankbarkeit im Plenum, Jubelfanfaren in der gleichgeschalteten staatstragenden Journaille.
Wer einem Parlament seine Quirligkeit als Unreife auslegt, schlägt den Sack, meint aber den Esel: “Lebendige Demokratie” muß unbequem sein. Freilich ist das Ventil dann oft an der falschen Stelle, aber der Druck muß einfach raus!!
Wer dann auch noch von unten kommende “Utopien” mit in einer Diktatur von oben verordneten “5-Jahresplänen” vergleicht, um auch einmal eine “griffige Metapher” zu haben…. es gibt in unserer poltischen Landschaft “Volksparteien” mit einem ähnlichen Demokratieverständnis.
Baer
15. Juli 2019 @ 11:06
Ich will mich zu Herrn Grimm vorsichtig äußern aber es scheint bei ihm eine synoptische Sollbruchstelle zu geben,die erheblich gestört ist,oder die Ideologisierung ist extrem weit fortgeschritten.Oder beides….
Einfach nur noch skurril.
Kleopatra
15. Juli 2019 @ 06:58
Wer von einem Präsidenten der Kommission weitreichende Reformen oder sonstige Taten erwartet, wendet sich an die falsche Adresse. Dafür ist die EU nicht konstruiert. Und wie „ambitioniert“ die „Klimaziele“ sind, die man verkündet, ist erst recht egal (nicht egal ist hingegen, was tatsächlich passiert, aber der gegenwärtige Wettbewerb um immer noch ambitioniertere Klimaziele sieht für mich nach dem kommunistischen Fünfjahresplanwesen aus, wo man auch nur unter Lebensgefahr die Durchführbarkeit eines der immer ambitionierteren Vorschläge bezweifeln durfte).
Wahrscheinlich sind die derzeitigen Verfallserscheinungen Spätfolgen der Jahre, in denen die Organisation durch Befehle aus Berlin zusammengehalten wurde. Nachdem die Autorität von A.M. vor aller Augen bröckelt, merkt man, dass es keine Strukturen mehr gibt, in denen Entscheidungen getroffen werden können (da ja jahrelang alle wichtigen Entscheidungen in inoffiziellen Besprechungen zwischen A.M. und einigen anderen getroffen wurden).
Peter Nemschak
15. Juli 2019 @ 09:46
Dem europäischen Parlament fehlt ein wesentliches Merkmal. Es ist nicht aus gleichen Wahlen hervorgegangen, da die Mitgliedsländer, zwar aus gutem Grund, unterschiedliche Stimmgewichte haben – so der deutsche Historiker Heinrich August Winkler in einem lesenswerten Beitrag in der heutigen NZZ: “Heinrich August Winkler lehnt das Projekt Spitzenkandidatur für Europa als Irrweg ab”. Er plädiert für eine verstärkte Zusammenarbeit der nationalen Parlamente, um dem entstehenden Rechtspopulismus aus Osteuropa und Italien entgegenzuwirken. Die ständige Erweiterung der Kompetenzen des EU-Parlaments gegenüber den Regierungen führt zu einem verstärkten Demokratiedefizit statt einer vertieften Demokratisierung der EU, so der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm.