“Germany first”: Warum der “Doppelwumms” die EU empört
Endlich tun wir etwas gegen die Energiekrise, und dann ist es auch wieder nicht recht. So oder so ähnlich sieht die Bundesregierung den Aufstand gegen den “Doppelwumms”, also das 200-Mrd.-Euro-Programm gegen hohe Gas- und Strompreise. Doch die Empörung ist berechtigt – die Gründe.
- Viele EU-Staaten, vor allem im Osten, sehen Deutschland als Verursacher des Problems. Durch seine übermäßige Abhängigkeit von Gas aus Russland habe das größte EU-Land Europa erpressbar gemacht und den “Energiekrieg” übehaupt erst ermöglicht. Dass dieser Krieg erst mit den EU-Sanktionen begann, wird in dieser Argumentation geflissentlich übersehen.
- Südliche EU-Staaten wie Griechenland und Spanien, aber auch Belgien und Frankreich verweisen darauf, dass Deutschland monatelang auf der Bremse stand und EU-weite Maßnahmen gegen die Energiekrise verhindert hat. Tatsächlich debattiert die EU schon seit Oktober 2021 über Gegenmaßnahmen. Sowohl Ex-Kanzlerin Merkel als auch Scholz waren dagegen.
- Fast alle EU-Länder klagen darüber, dass Deutschland eine rücksichtslose Politik auf dem Gasmarkt verfolge. Das als Ersatz für russisches Pipeline-Gas benötige LNG werde zu jedem noch so hohen Preis gekauft, was zahlungskräftige Länder überfordere. Dieses Argument ist durchaus nachvollziehbar. Wie zu Beginn der Coronakrise gilt “Germany first”.
- Sogar die EU-Kommissare Breton und Gentiloni warnen vor einer Verzerrung des Binnemarkts durch den deutschen Alleingang beim “Doppelwumms”. Kleinere EU-Länder könnten eben nicht 200 Mrd. Euro zur Stützung ihrer Wirtschaft ausgeben. Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung gibt Deutschland nicht mehr Hilfe als andere Länder. Doch die Masse macht’s.
- Besonders empörend ist aus Sicht vieler EU-Länder, dass sich Deutschland auch noch gegen einen europäischen Gaspreisdeckel sträubt. Dieser könnte den ruinösen Preiswettbewerb am Gasmarkt eindämmen, heißt es bei den Kritikern, doch Berlin verweigere auch diese Solidarität. 15 von 27 EU-Staaten fordern einen Preisdeckel, sogar die EU-Kommission denkt nun darüber nach.
Fazit: Im Streit um den “Doppelwumms” entlädt sich jahrelang aufgestauter Ärger über die egoistische und kurzsichtige deutsche Energiepolitik. Der Streit entfaltet eine ähnlich Dynamik wie zu Beginn der Coronakrise – am Ende könnte ein neuer, EU-weiter Hilfsplan stehen…
Siehe auch “Vom Doppelwumms” zum “Rumms”
P.S. Laut “Le Monde” hat Berlin noch nicht einmal die EU-Kommission vorab informiert. Drweil melden belgische Zeitungen, Premier De Croo habe Kommissionschefin von der Leyen aufgefordert, nicht immer nur den deutchen Wünschen hinterherzulaufen. Beide Berichte zeugen von der überaus angespannten Stimmung…
Armin Christ
7. Oktober 2022 @ 06:30
Wir sollten nicht vergessen, daß die EU Osterweiterung Hand in HAnd ging mit der NATO Osterweiterung.
Obwohl bejannt war, daß da einige Länder den USA Folterlager zu Verfügung stellten war das ganzundgarkein Grund deren EU MItgliedschaft aufzuschieben. Mit der Aufnahme dieser Länder kam die Antirusslandpolitik wieder an eine vordere Stelle und die EU wurde mehr als vorher zum Vasall der USAdministration.
KK
6. Oktober 2022 @ 01:02
@ Kleopatra:
Deutschland hat auch via Jamal Gas aus Russland bezogen, wie eben Polen auch. Polen hatte ohne Rücksprache die leitung geschlossen und bezog seitdem sein russisches Gas aus Deutschland, während es hier schon fraglich war, ob die Speicher vor dem Winter würden hinreichend gefüllt werden können.
Gleichzeitig rühmte sich Polen auf internationaler Bühne, kein Gas mehr aus Russland zu beziehen, dabei bezog es weiterhin russisches Gas, nur eben jetzt aus Deutschland. Und genau das nenne ich scheinheilig.
Jedes Land in der EU tut alles, um seine nationalen Interessen bestmöglich durchzusetzen. Das ist in Deutschland so, das ist in Polen so – und das ist in allen anderen Ländern auch so. Sieht man ja auch zB an den Niederlanden, Irland und Luxemburg, die durch ihre Steuerpolitik anderen EU-Staaten viele Steuereinnahmen zu ihren eigenen Gunsten vorenthalten. Italien wird da demnächst mit den Faschisten auch noch ganz andere Saiten aufziehen, was auch Frankreich nach der nächsten Wahl wird, wissen wir auch noch nicht.
Und die östlichen Mitgliedsstaaten haben seit ihrer Aufnahme massivst von dem Geld der anderen profitiert, und lassen jetzt den dicken Macker raushängen. Ich hatte damals schon gesagt, die Osterweiterung ginge viel zu schnell – und jetzt sehe ich, das ich Recht hatte! Die Hand, die füttert, sollte nicht gebissen werden. Für mich sieht das aus, als hätte die EU langsam fertig!
european
6. Oktober 2022 @ 08:31
Die EU-Osterweiterung ging viel zu schnell. Damit haben Sie völlig Recht.
Ob diese Länder tatsächlich profitiert haben, ist die Frage. Es sind Nettoempfänger, das stimmt, aber alle östlichen Länder, die baltischen Staaten, Rumänien, Bulgarien etc. erleben immer noch Massenexodus, insbesondere der jungen Leute. Bulgarien ist das Land mit der höchsten Abwanderungsrate der Welt. Sie bilden die jungen Menschen auf eigene Kosten aus und diese werden dann von den schwäbischen Hausfrauen und anderen abgeworben. Siehe auch rumänische Ärzte.
Diese Tatsache verhüllt die tatsächlichen Probleme und lässt die Arbeitslosenquote relativ niedrig erscheinen. Ist ja kaum noch jemand da. Tatsächlich haben diese Länder kaum ein ökonomisches Modell, das mit den starken Ländern, insbesondere den Exportnationen, mithalten kann.
Des weiteren sollte man sich mit der Frage befassen, wie demokratiefähig bis dato autokratisch regierte Länder eigentlich sind.
Kleopatra
5. Oktober 2022 @ 23:51
Gas wird im Binnenmarkt frei gehandelt, daher steht es Polen bzw. polnischen Rechtssubjekten frei, in Deutschland Gas zu kaufen, egal auf welchem Weg und von woher dieses nach Deutschland gelangt ist.
Dieser Grundsatz ist auch unerlässlich, weil andernfalls Russland die Möglichkeit hätte, einzelne EU-Mitgliedstaaten zu erpressen, indem es sie selektiv nicht beliefert.
Kleopatra
5. Oktober 2022 @ 21:46
Deutschland hat während der gesamten Ära Merkel auf die EU keine Rücksicht genommen und das einzige Argument, das in der innerdeutschen Diskussion zählte, war immer das „deutsche Interesse“ (das laut maßgeblichen Sozialdemokraten unter anderem von Schröder im Aufsichtsrat von Gazprom vertreten wurde). Weshalb sollten diese national bornierten Politiker auf einmal ihre nationale Beschränktheit ablegen?
Holly01
6. Oktober 2022 @ 08:48
Da stimme ich Ihnen vorbehaltlos zu.
Der deutsche “Führungsanspruch” kam schon unter Kohl nur all zu gerne als Unfähigkeit/Unwillen mit Kritik umzugehen und als mehr oder weniger ständiges Bemühen um einseitige Vorteile daher.
Immer im Sinn von “dreist kommt weiter, unverschämt gewinnt”, denn alle anderen waren ja eigentlich doof und nur am deutschen Wesen” kann die Welt genesen”.
Selbst Schröders “Frankreichliebe” war nur eine Variante von “Ausnutzen” und “Isolieren” als deutsch-französischer Motor, wo Frankreich immer mehr Substanz verloren hat und systematisch ausgezehrt wurde.
ebo
6. Oktober 2022 @ 09:38
Schröder hat knallhart gegen Frankreich gearbeitet. Nur beim Irakkrieg war er mit Chirac einig.
KK
5. Oktober 2022 @ 18:32
“Viele EU-Staaten, vor allem im Osten, sehen Deutschland als Verursacher des Problems. Durch seine übermäßige Abhängigkeit von Gas aus Russland habe das größte EU-Land Europa erpressbar gemacht…”
Aus der gleichen Quelle hat Polen jahrelang ebenso Gas bezogen, zuletzt nach dem Zudrehen von Jamal durch Polen selbst via NS1 und Deutschland, bis die polnischen Speicher randvoll waren. Scheinheiliger gehts nicht.
Und die Solidarität, die die Osteuropäer jetzt beim Gas einfordern, haben sie selbst bei der Flüchtlingsfrage kategorisch verweigert.