Selenskyj: “Wir sind die EU”
Tritt die Ukraine der EU bei – oder die EU der Ukraine? Zwei überraschende Vorgänge der letzten Tage zeigen, dass man das gar nicht mehr so genau unterscheiden kann.
Erste Überraschung: Präsident Selenskyj gratuliert Frankreichs Staatschef Macron zu dessen nunmehr beendeter EU-Ratspräsidentschaft.
Congratulations to @EmmanuelMacron on the successful completion of the French Presidency of the Council of the EU @Europe2022FR. It became historic for Ukraine and all of Europe. Together we make Europe stronger #EmbraceUkraine
Quelle: Twitter
Dieser Tweet klingt so, als gratuliere hier ein EU-Chef dem anderen – und nicht ein völlig von westlicher Hilfe abhängiger Bewerber dem derzeit wohl mächtigsten EU-Politiker. “Zusammen wir Europa stärker”. Nun ja.
Gleich danach die zweite Überraschung: Kommissionschefin von der Leyen hält eine Rede im ukrainischen Parlament. Obwohl sie nur virtuell anwesend war, gab es standing ovations – auch von Selenskyj, der persönlich erschienen war.
Der Anlaß: Man wollte den Kandidatenstatus der Ukraine feiern. Meines Wissens gab es Vergleichbares noch nie. Ich kann mich nicht erinnern, dass andere Kommissionspräsidenten einem EU-Anwärter so viel Aufmerksamkeit zukommen ließen.
Von der Leyen: „Europa wird Ukraine bis zum allerletzten Schritt in die EU begleiten“
Allerdings goß von der Leyen dann doch ein wenig Wasser in den Wein. Die Ukraine müsse mehr gegen die Korruption tun, sagte sie. Gegen den Einfluss von Oligarchen auf Wirtschaft und Politik gebe es zwar ein Gesetz. Dies müsse nun jedoch rechtssicher umgesetzt werden.
Selenskyj betonte, dass sein Land und die EU jetzt zusammen seien. “Nicht zwei Nachbarn, zwischen denen Grenzen und Barrieren sind, sondern eine europäische Familie, die gemeinsame Werte und ein gemeinsames Schicksal haben.”
Es klang so, als sei die Ukraine schon Mitglied – und könne nun gleichberechtigt mitreden. Selenskyj fühlt sich auf jeden Fall schon auf Augenhöhe. Kein Wunder – schließlich liest ihm die EU alle Wünsche von den Lippen ab…
Siehe auch Ukraine-Beitritt: Darum geht es wirklich
P.S. Selenskyj wähnt sich weiter auf der Überholspur. Zitat aus dem “Guardian”:
Zelenskiy said Ukraine’s path to EU membership should “not take years or decades” and vowed to make Ukraine’s part of the process “perfect”. In a Telegram post, Ukraine’s president said: “We have to overcome this path quickly. Make our part of the job perfect. To enable our friends in the European Union to make another historic decision for us just as quickly and in a consolidated way.”
The Guardian
Ld3000
3. Juli 2022 @ 13:24
Was mir ein klein bisschen Hoffnung gibt, ich habe den Beitrag von Jeffrey Sachs nicht in einem Blog, sondern in der Berliner Zeitung gelesen. Vielleicht entspinnt sich die Presse langsam ihrer Verantwortung?
Alexander
2. Juli 2022 @ 22:10
2.7.22: „Lysychansk has fallen!“, „I didn’t expect that this operation will be so fast“
„https://www.youtube.com/watch?v=o2CPyLQV4u0“
Vielleicht mag die ukrainische Armee ja jetzt putschen?
Burkhart Braunbehrens
2. Juli 2022 @ 12:02
Missverständlich: muss natürlich ergänzt werden “als undemokratisch diffamiert werden”, bezogen auf die Menschen, die auf die Straße gehen.
Burkhart Braunbehrens
2. Juli 2022 @ 11:58
Die EU wurde durch die Dynamik der russischen Aggression gezwungen, endlich als Vertreterin Europas zu agieren und als Vertreterin der hehren Ziele, für die die EU gegründet wurde. Dass EBO und viele, die ihm teils recht aggressiv folgen jetzt für eine EU der behäbigen Verteidigung ihres Wohlstands unter dem Banner der Friedenswahrung und einer überheblichen Vernunft auftreten, ist enttäuschend.
Von einem Europa-Bloc erwarte ich eine andere Haltung. Dass in diesem Bloc auch noch die Menschen, die für einen europäischen Lebensstil und die Werte, die ihn garantieren, auf die Straße gehen, finde ich recht abscheulich.
european
2. Juli 2022 @ 12:49
Die EU tritt ja nicht als Vertreterin der europäischen Bürger auf. Das ist ja das Problem. Sie folgt bedingungslos den Interessen der US Administration, die nicht mit europäischen Interessen übereinstimmen.
Mit fatalen Folgen. Deutschland stürzt gerade als Folge dieser planlosen Sanktionitis in eine der größten Energiekrisen mit fatalen Folgen für die Wirtschaft und das Land. Habeck versucht gerade ernsthaft den Leuten zu vermitteln, dass es völlig normal ist, dass Sanktionen die Sanktionierer treffen. Immerhin duscht er jetzt weniger, wie er verlauten ließ.
ebo
2. Juli 2022 @ 20:47
Den letzten Satz verstehe ich nicht. Wer geht jetzt für was auf die Straße, und was ist daran abscheulich?
Ld3000
3. Juli 2022 @ 13:22
Ich sehe hier wirklich nicht, dass die EU hier große ideale verteidigt. Ginge es um ideale und Werte müsste sich ja die EU längst selbst sanktionieren. Vielleicht ist das der tiefere Sinn hinter dem Rückschlag der Sanktionen?
Autokraten werden in gut und böse unterteilt, Kurden an gute autokraten verraten usw… Gas vom einen autokraten abgelehnt, nur um es vom nächsten zu kaufen.
Ist es denn Verteidigung unserer ideale, einer angegriffenen Regierung Waffen zu geben, die ihre Leute mit Ausreisesperren zum kämpfen zwingt?
Kleopatra
2. Juli 2022 @ 08:23
Da bereits die letzte russische Aggression (Annexion der Krim und Förderung der “separatistischen Räuberbanden im Donbass) eine Reaktion Russlands darauf war, dass große Teile der ukrainischen Bürger durch Demonstrationen für die Assoziation an die EU den putinfreundlichen Präsidenten Janukowitsch gestürzt hatten, war es höchste Zeit, dass die EU in aller Form anerkennt, dass sie hier zu ihrem Verbündeten stehen muss und dass Russland ein feind ist (jedenfalls sieht der russische Präsident diese Feindschaft offenkundig, und das nötige Vertrauen für jegliche Zusammenarbeit mit Russland dürfte auf Jahrzehnte hinaus zerstört sein).
ebo
2. Juli 2022 @ 09:13
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir Kroatien und Slowenien 1991 sofort den EU-Beitritt angeboten hätten, nachdem Serbien dort militärisch eingegriffen hatte. Ebenso wenig kann ich mich an Sanktionen gegen die USA erinnern, nachdem diese ein Medienzentrum in Belgrad und die chinesische Botschaft bombardiert hatten. Einer der heißesten Kriegstreiber damals war übrigens ein gewisser Joe Biden – er brüstet sich noch heute damit.
european
2. Juli 2022 @ 13:58
Sehr richtig und es gibt auch Amerikaner, die das so sehen.
Heute auf braveneweurope
https://braveneweurope.com/jeffrey-d-sachs-ukraine-is-the-latest-neocon-disaster
„The Biden Administration is packed with the same neocons who championed the US wars of choice in Serbia (1999), Afghanistan (2001), Iraq (2003), Syria (2011), Libya (2011), and who did so much to provoke Russia’s invasion of Ukraine. The neocon track record is one of unmitigated disaster, yet Biden has staffed his team with neocons. As a result, Biden is steering Ukraine, the US, and the European Union towards yet another geopolitical debacle“
Kurz, knapp und präzise auf den Punkt gebracht. Es gibt nicht nur Mearsheimer.
Ld3000
2. Juli 2022 @ 11:18
wenn du grosse Teile der Bürger von Kiev geschrieben hattest könnte man das ja noch für voll nehmen. Wenn eine relativ kleine Gruppe lautstarker unzufriedener die Regierung umstürzt dann hat das nichts mit Demokratie zu tun.
Kleopatra
3. Juli 2022 @ 08:13
Demokratie strebt an, dass die Regierung von den Bürgern (mehrheitlich) getragen wird. Deshalb können in einer Demokratie auch massenhafte Proteste oder andere Kundgebungen, die zeigen, dass eine Regierung/ein Regierungschef die Unterstützung verloren hat, dazu führen, dass die Regierung ohne physischen Zwang das Feld räumt. Ein Beispiel wäre der österreichische Bundeskanzler Faymann, der im Frühjahr 2016 zurücktrat, nachdem er bei der Maidemonstration seiner Partei ausgepfiffen worden war.
Janukowitsch hat 2014 offenbar gesehen, dass er sich allenfalls noch mit brutaler Gewalt würde halten können, und hat daraufhin die Fliege gemacht (bzw. ist dem Vorbild Wilhelms II. gefolgt).
Holly01
1. Juli 2022 @ 13:45
Tatsächlich sieht man einen Wettlauf, den die Ukraine gewinnen will.
Die Russen verbrauchen erheblich mehr Material als sie produzieren können.
Der Druck wird also irgendwann einbrechen.
Da die Ukraine unbegrenzt Material bekommt, gibt es diesen Kipppunkt bei der Ukraine nicht.
Sobald Russland einknickt und die Ukraine den Gegendruck hält, wird die Ukraine ihre Gebiete quasi “automatisch” zurück gewinnen (und mehr).
Die Ukraine muss nur durchhalten.
Es gibt da nur zwei oder drei andere Aspekte.
– Russland und die BRICS sind extrem viel erfolgreicher beim Aufbau einer alternativen Weltordnung als irgend jemand gedacht hätte.
– Indien und China haben sich in keiner Weise einschüchtern lassen.
– Die wirtschaftlichen Schäden bei der Wertegemeinschaft sind massiv höher als gedacht.
– Es ist also weder sicher, das die Versorgung der Ukraine so “endlos” sein wird.
– Es ist nicht sicher, das die BRICS ihre Fortschritte in Frage stellen lassen. Möglich sind Waffenlieferungen an Russland (offen oder verdeckt) und Beistandspakte, die auch schlagend werden sprich: andere Staaten senden Militär.
– Es wird eine weitere Front aufgemacht. Ob das nun Taiwan ist irgend wo anders ist egal. Sollten die USA selbst in einen anderen Stellvertreterkrieg geraten, wird die Materialversorgung ganz schnell ganz eng.
Die USA haben überraschend geringe Herstellungskapazitäten und das Land USA überraschend geringe industrielle Kompetenz schnell zu expandieren.
Die zweite Front könnte auch der Bürgerkrieg sein der da bereits tobt.
Es gibt kein anderes Land wo so viele Menschen Opfer von Gewalt werden und das könnte nach den midterms eine ganz und gar neue Dimension annehmen.
Das höchste Gericht hat gerade offene Waffen in New York erlaubt. Das habe ich hier von den MM als Verschärfung präsentiert bekommen, aber das sehe ich anders.
Die Musik spielt eben nicht nur in der Ukraine und die Orchester klingen etwas disharmonisch.
Kurzer Blick zu den Kurden.
Tja. Niemand verrät seine Freunde so schön wie die USA und das ist eine Konstante.
Torsten
2. Juli 2022 @ 12:56
Holly’s Kommentare sind einfach auf den Punkt gebracht. Für mich sind sie hier das Salz und die Kräuter in der EU-Suppe, die mehr und mehr verdorben schmeckt.
european
1. Juli 2022 @ 13:41
Heute im Guardian:
“Volodymyr Zelenskiy has said Ukraine’s path to European Union membership should “not take years or decades” and vowed to make Ukraine’s part of the process “perfect”. He said “Our path to membership should not take years or decades. We have to overcome this path quickly. Make our part of the job perfect. To enable our friends in the European Union to make another historic decision for us just as quickly and in a consolidated way.””
https://www.theguardian.com/world/live/2022/jul/01/russia-ukraine-war-live-news-russian-missile-strikes-odesa-zelenskiy-hails-snake-island-victory-latest-updates
Da hat es aber jemand eilig. Die EU Foerdertoepfe muessen her. Schliesslich stehen sie auf dem “Sanierungsplan” ganz oben auf der Liste. Ich bin sicher, die ukrainischen Oligarchen haben auch schon ihre Calculator ausgepackt.
Ich will ja nicht unken, aber irgendetwas sagt mir, dass wir noch unser blaues Wunder erleben werden.