Die nächste Notverordnung, der nächste Rechtsruck – und Kritik an Chatkontrolle

Die Watchlist EUropa vom 20. September 2022 –

Die EU-Kommission fordert neue, weitreichende Befugnisse, um Versorgungs-Engpässe wie zu Beginn der Coronakrise zu verhindern. Ein Mangel an Masken, Medikamenten und Beatmungsgeräten dürfe nie wieder eintreten, erklärte Binnenmarktkommissar Thierry Breton. Daher müsse die EU mehr als bisher die Lieferketten sichern und Unternehmen und Staaten an die Leine nehmen.

Künftig soll es eine zentrale Überwachung und Steuerung „kritischer“ Versorgungswege in Brüssel geben. In Krisen will die EU-Kommission einen “Überwachungsmodus” aktivieren. Die 27 Mitgliedstaaten könnten dann den Notfall ausrufen, der der EU-Behörde bisher ungekannte Sondervollmachten über die Industrie gibt.

Das Ganze heißt “Notfallinstrument für den Binnenmarkt“. Es ist jedoch kein Gesetz aus einem Guss, sondern eine Sammlung verschiedenster Maßnahmen und Befugnisse. So fordert die EU-Kommission auch das Recht, Grenzschließungen zu verhindern, wie sie Deutschland und Frankreich zu Beginn der Corona-Krise verhängt hatten.

“Keine Planwirtschaft”

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Das neue Instrument sei nicht auf die Coronakrise gemünzt, betonte Breton. In der Pandemie hätten sich lediglich besonders deutlich die Lücken der EU-Gesetzgebung gezeigt. Für die Energiekrise oder den Ukrainekrieg habe man den Plan allerdings auch nicht konzipiert, so der Franzose. Vielmehr gehe es um kommende „extreme“ Lagen, etwa eine Naturkatastrophe oder eine Cyberattacke.

Mit Planwirtschaft habe der Entwurf nichts zu tun, betonte Breton. Die Vorschläge seien “genau das Gegenteil, denn sie sorgen für einen funktionierenden Markt”, sagte Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Außerdem würden die EU-Staaten das letzte Wort behalten. Die Initiative würde nach dem Vorschlag allerdings bei der Kommission in Brüssel liegen.

Konkret will die Kommission die Lieferketten für bestimmte strategisch wichtige Waren und Dienstleistungen überwachen und strategische Reserven in diesen Bereichen aufbauen. Im Notfall kann die EU-Behörde gezielte Auskunftsersuchen an die Unternehmen richten, deren Beantwortung für verbindlich sein kann.

Anweisungen aus Brüssel

Sie kann die Firmen auch auffordern, vorrangige Bestellungen für krisenrelevante Produkte anzunehmen. Die Unternehmen müssen diese dann entweder annehmen oder die Gründe erläutern, warum sie die Vorgaben aus Brüssel mißachten. Um welche Firmen und Produkte es genau geht, blieb bei der Vorstellung offen.

Brüssel will eine Art Blankoscheck – und das nicht zum ersten Mal. In der Coronakrise hat sich die EU-Kommission schon neue Rechte in der Gesundheitspolitik gesichert und eine eigene Behörde gegründet. Sie heißt HERA und arbeitet hinter verschlossenen Türen eng mit der Industrie zusammen.

Ende Juli wurde dann ein Notfallplan Gas verabschiedet, der massive Sparmaßnahmen vorsieht. Auch hier wollte die Kommission das letzte Wort haben – doch die EU-Staaten sagten Nein. Mal sehen, ob es beim Notplan für den Binnenmarkt “besser” für die Bürokraten aus Brüssel läuft…

Siehe auch meinen Kommentar: Eingriff in die Produktion: Brüssel geht zu weit

Watchlist

Macht die EU Ernst im Streit um den Rechtsstaat in Ungarn? Nur einen Tag nach dem Vorschlag der EU-Kommission, 7,5 Mrd. Euro an EU-Zuwendungen zu streichen, wachsen die Zweifel. Neben Polen könnte sich nämlich auch Italien nach der Wahl am Wochenende gegen die Brüsseler Behörde stellen und so die nötige qualifizierte Mehrheit für die Geldstrafe verhindern. In Rom droht ein Rechtsruck, wie zuvor schon in Schweden. Brüssel hat womöglich zu lange gezögert…

Was fehlt

Die in der EU geplante Chatkontrolle hat einen neuen Gegner: Der UN-Menschenrechtskommissar sieht im Einsatz der Überwachungstechnologie auf Smartphones und Tablets einen Paradigmenwechsel, der „erhebliche Risiken“ für Grundrechte mit sich bringe. Er rät allen Staaten davon ab, anlasslos nach Dateien zu suchen, wie “Netzpolitik” meldet. Es drohe ein Kontrollverlust über die Endgeräte. Den hat manch einer allerdings auch so schon…