Die Malaise im Binnenmarkt
Die EU hält ihren Binnenmarkt hoch – koste es, was es wolle. In den Verhandlungen über den Brexit wurde der Binnenmarkt sogar für sakrosankt erklärt. Dabei erfüllt er längst nicht mehr alle Erwartungen – auch nicht in Deutschland.
Dies zeigt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Der Binnenmarkt kann die Bedürfnisse des deutschen Arbeitsmarkts bald nicht mehr decken, meinen die (natürlich völlig unabhängigen) Experten. Deshalb müsse Berlin außerhalb der EU suchen.
Im Jahresdurchschnitt seien 114 000 Zugänge aus dem EU-Ausland und 146 000 aus Drittstaaten erforderlich, um den Demografie-bedingten Rückgang des Arbeitskräfte-Angebots auf ein “für die Wirtschaft verträgliches Maß” zu begrenzen.
Mal davon abgesehen, dass das “für die Wirtschaft verträgliche Maß” nicht auch für die Bürger (und Wähler) verträglich sein muß, stellt sich die Frage, ob die deutsche Wirtschaft nicht zu einseitig auf den Export ausgerichtet und aufgebläht ist.
Der Binnenmarkt hat dies nicht verhindert, sondern sogar noch gefördert. Gleichzeitig ist die Industrie aus UK, Frankreich und anderen Ländern nach Deutschland abgewandert. Eine problematische Entwicklung, doch das ist in Brüssel tabu.
Tabu ist auch die Malaise, die mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Binnenmarkt verbunden ist. Dabei führte sie nicht nur 2016 zum Brexit (die Briten hatten zu viele Arbeitsmigranten und wollten ein Limit setzen). Sie bereitet auch heute Probleme.
So kommen viele Bulgaren und Rumänen nach Deutschland – wo sie zwar kaum Arbeit finden, dafür aber Kindergeld kassieren. Umgekehrt wandern viele Ärzte nach Österreich und in die Schweiz aus, was in Deutschland zu Mangel führt.
Und dann hätten wir noch das Problem, dass Hochqualifizierte zunehmend aus (ehemaligen) Krisenländern wie Griechenland oder der Türkei abwandern, wo sie dann neue Lücken reißen. Von einem Ausgleich durch den Binnenmarkt kann keine Rede sein.
Aber wie gesagt, all das ist in Brüssel tabu. Man merkt nur kurz auf, wenn die CSU das Kindergeld für EU-Ausländer kappen will, oder Gesundheitsminister Spahn über den Mangel an Pflegekräften klagt… und macht dann weiter wie zuvor!
Trotzdem wage ich die Prognose, dass die Malaise im Binnenmarkt noch zum Thema wird – nämlich dann, wenn es Deutschland auch zu viel wird, so wie 2016 Großbritannien. Erst dann, so meine Sorge, wird Brüssel aufwachen…
[bctt tweet=”Man merkt nur kurz auf, wenn die CSU das Kindergeld für EU-Ausländer kappen will, oder Gesundheitsminister Spahn über den Mangel an Pflegekräften klagt… und macht dann weiter wie zuvor! ” username=”lostineu”]
WATCHLIST:
- Rien ne va plus en Belgique. Am Mittwoch legt ein Generalstreik das Land lahm. Sogar der Flugverkehr ist gelähmt, der belgische Luftraum wird geschlossen! Der Protest richtet sich in erster Linie gegen die Arbeitgeber, denen vorgeworfen wird, die Tarifverhandlungen für den Privatsektor zu torpedieren. Er ist aber auch ein Alarmsignal für die Politik. Ähnlich wie bei den Gelbwesten in Frankreich hat sich Wut angesammelt – gegen das “teure Leben” und die sinkende Kaufkraft…
WAS FEHLT:
- Irgendwelche Konsequenzen aus der Vetternwirtschaft im Fall Selmayr. Ein Jahr nach der umstrittenen Blitz-Beförderung des deutschen Juristen zum Generalsekretär der EU-Kommission hat die EU-Bürgerbeauftragte den Fall nun zu den Akten gelegt – mit einer simplen Rüge! Die Kommission habe EU-Recht nicht eingehalten, “weder dem Buchstaben noch dem Geiste nach”, sagte Ombudsfrau Emily O’Reilly. Ihre Empfehlungen habe die Kommission ignoriert. Na und?
Zu dieser Farce habe ich 2018 ein E-Book veröffentlicht (“Game over”). Es steht zum Download bereit, und zwar hier
Holly01
13. Februar 2019 @ 17:30
Ich habe mich gerade köstlich amüsiert, den Schenkelklopfer möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:
https://braveneweurope.com/ashoka-mody-the-ecb-has-reached-its-political-limits-its-consequences-in-eight-charts
Ich dachte tatsächlich die Briten wüssten was los ist, wenn der Text Konsens ist, dann ist das …. unerwartet.
vlg
Peter Nemschak
13. Februar 2019 @ 10:05
Staatlicher Wirtschaftsdirigismus und Bevölkerungspolitik haben noch nie befriedigend funktioniert. Die Wirtschaft wird dorthin wandern, wo es für sie am attraktivsten ist. Standort hat eine Bedeutung. Soll man deshalb Deutschland unattraktiv machen oder sollen sich die anderen nach oben strecken? Man muss die Ursachen für das Abwandern von leistungsfähigen Arbeitskräften beseitigen, seien es finanzielle Anreize, ein attraktives Arbeitsumfeld und Karrierechancen. Dass aus korrupten Oststaaten intelligente Menschen nicht bleiben wollen, ist ein Problem, dass die Wähler in diesen Staaten lösen müssen. Die EU kann nur wenig dazu beitragen. Wer will schon im korrupten Rumänien und Ungarn bleiben, wo Leistung wenig zählt, Seilschaften aber alles sind. Nicht nivellieren, Anreize schaffen und Tüchtigen nichts in den Weg legen.
Holly01
13. Februar 2019 @ 11:22
Hallo Hr.Nemschak,
ich übertreibe absichtlich bei der Wortwahl, damit kein Spielraum für “Fehlinterpretationen” bleibt.
” “für die Wirtschaft verträgliches Maß”” ist das euphemistische Synonym für “Zuviel war einfach nicht genug”.
Dieses Geld gierige Dreckspack bekommt das Geld aus allen Richtungen in alle Körperöffnungen gestopft und kriegt den hals einfach nicht voll.
https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.560975.de/17-27.pdf
Peter Nemschak
13. Februar 2019 @ 13:41
Die Masse ist nicht besser.
Kleopatra
13. Februar 2019 @ 20:13
Die Unterstellung, dass ein niedriges Lohnniveau eine mehr oder weniger direkte Folge korrupter Politik ist, wirkt auf mich wie eine Ausrede, um das Problem der stark unterschiedlichen Lohnniveaus nicht als Problem, sondern als gerechte Strafe zu sehen und daher eine Politik, die ihm entgegenwirkt, nicht für sinnvoll halten zu müssen. Aber auch die beste, moralischste und korrekteste Politik hätte das Problem des unterschiedlichen Wirtschaftsniveaus zum Zeitpunkt des EU-Beitritts nicht hinweghexen können. Die Streiks in ungarischen Zweigwerken deutscher Autofirmen, die in der letzten Zeit stattfanden, werden wohl nicht von Menschen durchgeführt worden sein, die Ungarn verlassen wollen.
Kleopatra
13. Februar 2019 @ 08:13
Das halbwegs entspannte Verhältnis zu EU-Immigranten, das in Deutschland (und Österreich) zu beobachten ist, verdankt sich m.E. nicht zuletzt der langen Übergangsfrist, bevor diese beiden Länder die Freizügigkeit für Arbeitnehmer auf die neuen Mitgliedstaaten anwandten. Großbritannien hat keine Übergangsfrist beansprucht, weil T. Blair eine große Geste machen wollte (und wohl auch, weil britischer Unternehmer lieber Osteuropäer als einheimische einstellen wollten), und jetzt hat man den Salat. Die naheliegende Folgerung wäre, ehrlich zu gestehen, dass die “Prinzipien des Binnenmarkts” dem guten wechselseitigen verhältnis nicht immer nützen und deshalb nicht sakrosankt sein sollten.