Deutschland am Pranger – doch die Kritiker übersehen die wahren Probleme
Erst die Ukraine und Polen, dann Frankreich und Italien, nun auch noch die USA: Deutschland steht am Pranger, weil es (angeblich) nicht genug für EUropa und die Welt tut. Was ist da los?
On Ukraine and on Energy, Germany Is Upsetting Its Allies in Europe„. So überschreibt die „New York Times“ einen Artikel über das Land, „das lange Europas de facto-Leader“ war. Deutschland stoße seine Alliierten vor den Kopf und lasse Solidarität vermissen.
Schon klar, es geht um Waffen für die Ukraine, Nord Stream und die Energiekrise. Das US-Blatt wiederholt dieselben Vorwürfe, die wir schon aus der Ukraine und Polen und zuletzt auch aus Frankreich und Italien gehört haben. Dabei ist das Timing schlecht.
Schließlich hat Kanzler Scholz gerade erklärt, dass er die „Führung“ beim Wiederaufbau in der Ukraine übernehmen will. Außerdem hat Deutschland ein hochmodernes Luftabwehrsystem nach Kiew geschickt, mit dem nicht einmal die USA mithalten können.
Die Regierung wird weichgeklopft
Einen Teil der Vorwürfe kann man daher in die Kategorie „weichklopfen“ einordnen. Der Kriegsdienstverweigerer Deutschland wird, unter stetem Verweis auf die Nazi-Vergangenheit und die Russland-Connection, zum europäischen Militärdienst geprügelt.
Da dies recht erfolgreich war, ist nun Frankreich an der Reihe. Plötzlich prangern die USA und die Ukraine das angeblich mangelnde Engagement der Franzosen im Krieg gegen Russland an. Sogar fehlende Bereitschaft zum Atomkrieg wird ihnen vorgeworfen.
Ganz nebenbei zielen diese Attacken auch auf das deutsch-französische Gespann, das die EU angetrieben hat, nun aber durch eine neue Achse Kiew-Warschau-London-Washington ersetzt werden soll. So viel zu den geopolitischen Motiven.
Interessanter ist die Wirtschaftspolitik. Denn hier spielt die Musik. Und hier hat Deutschland die größten Fehler gemacht. Die Energiekrise wurde ausgesessen, der Wirtschaftskrieg mit Russland wurde angeheizt, der Ausstieg aus der Atomkraft besiegelt.
Wer dann auch noch – wie Scholz und sein grüner Wirtschaftsminister Habeck – den Gasmarkt zu Höchstpreisen leerkauft und die EU-Partner mit einem „Doppelwumms“ an die Wand spielt, muß sich nicht wundern, wenn er angefeindet wird.
Das Wirtschaftsmodell ist perdu
Die Alleingänge ließen sich noch verkraften, wenn Deutschland seine Wirtschaftskraft sichern und seine Rolle als europäisches „Powerhouse“ verteidigen könnte. Doch nicht einmal das ist sicher. Das größte EU-Land rutscht gerade in die Rezession.
Zudem hat es sein Wirtschaftsmodell verloren, das auf billiger Energie aus Russland, (fast) kostenloser Verteidigung durch die USA und offenen Absatzmärkten in China beruhte. Die deutsche Wirtschaft wird EUropa nicht mehr lange ziehen können.
Das sollte den Partnern die größten Sorgen machen. Denn es gefährdet die Zukunft der EU, die durch den Krieg ohnehin schwer erschüttert ist. Letztlich steht das gesamte europäische Nachkriegsmodell infrage. Die Einschläge kommen immer näher…
Mehr zu Deutschland und der „deutschen Führung“ hier
P.S. Nach einem Krisentreffen in Paris haben sich Präsident Macron und Kanzler Scholz zur Zusammenarbeit bekannt. Scholz und Macron wollten „eine gemeinsame Agenda der Souveränität, Reindustrialisierung und Dekarbonisierung in Europa vorantreiben“, hieß es im Elysée-Palast.
Hartmut Steiger
27. Oktober 2022 @ 12:59
Deutschland hat nicht sein Wirtschaftsmodell verloren, es wird gerade zerstört, und zwar von den USA mit tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung. Das sollte man offen sagen. Die Vereinigten Staaten sind in wichtigen Industrien nicht mehr konkurrenzfähig (Automobil, Investitionsgüter), in anderen Zweigen (Luft- und Raumfahrt) holen andere Regionen auf. Ohne Gewalt (militärische und wirtschaftliche) können sie ihre globale Stellung nicht mehr behaupten.
Deswegen führen sie einen Stellvertreterkrieg gegen Russland, der das Ziel verfolgt, Russland zu ruinieren und Deutschland als wichtigen wirtschaftlichen Player (nicht als Zahlmeister!) in Osteuropa klein zu halten. Die USA arbeiten schon am Aufbau eines Wirtschaftsraums in Ost- und Südosteuropa zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer, um dort Flüssiggas und Atomkraftwerke zu verkaufen. Polen setzt dabei auf den US-Konzern Westinghouse.
fjesse
27. Oktober 2022 @ 08:32
Aus der Sicht einiger französischer Medien, siehe z.B. Le Monde, befindet sich Deutschland, bzw. sein Kanzler und dessen Politik, in einer doppelten Isolierung. Einmal, indem es sich von Frankreich und der Idee einer europäischen Verteidigung abkoppelt, was sich im Kauf von amerikanischen oder, mit anderen EU-Staaten, von israelischen Waffensystemen und dem vorläufigen Verzicht auf die Entwicklung europäischer Waffen zeige. Deutschland orientiere seine Politik auch stärker auf die Beziehungen mit den osteuropäischen Staaten. Dazu kommt der Alleingang beim Milliardenpaket für die Unterstützung der deutschen Unternehmen, die Weigerung den Gaspreis zu deckeln usw.
Der andere Punkt ist, dass eben Polen und die baltischen Staaten Frankreich und Deutschland vorwerfen, die Agressionspolitik Putins nicht rechtzeitig erkannt zu haben, sie unterschätzen und entsprechend zögrlich reagieren ; da verlassen sich diese Länder eben lieber auf die USA und die NATO.
european
27. Oktober 2022 @ 13:08
Bisher sehe ich nur eine aggressive Expansionspolitik des Westens, völlig rücksichtslos, ignorant und entgegen europäischen Interessen.
Kleine Buchempfehlung : Die scheinheilige Supermacht. Von Michael Lueders.
Armin Christ
27. Oktober 2022 @ 08:32
Da kommt die Solidaritätsanmahnung von US Schreiberlingen. Wo war denn die Solidarität gewisser Staaten während der “Flüchtlingskrise” ? Staaten, die in Tateinheit mit den USA zwecks nineeleven Folterlager unterhalten – verdienen die Solidarität ?
Und die USA schreiben uns vor mit wem “wir” solidarisch sein sollen; das ist alles absoluter Missbrauch des Begriffes Solidarität.
KK
26. Oktober 2022 @ 23:26
@ Arthur Dent:
„…auc wenn sie noch so sehr von gemeinsamen Werten schwafeln.“
Die „gemeinsamen Werte“ sind doch klar und eindeutig zu benennen: €€€!
Arthur Dent
26. Oktober 2022 @ 22:57
Als es um den Corona-Aufbaufond ging, da waren Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande die…, na – richtig, frugal four. Die Liberalen Rutte und Macron haben damals nicht an einem Strang gezogen, die Konservativen Merkel und Kurz auch nicht, die damals sozialdemokratisch regierten Länder des Südens standen den sozialdemokratisch regierten Ländern des Nordens diametral gegenüber. Manchmal tanzen die Visegrad-Staaten aus der Reihe…. Wenn man will, sieht man, dass alle EU-Länder versuchen, erst einmal ihre eigenen Vorteile im Blick haben – auc wenn sie noch so sehr von gemeinsamen Werten schwafeln. Deutschland ist da nicht anders, als alle anderen auch – schon Machiavelli empfahl dem Fürsten, immer nur den Anschein der Tugend zu erwecken – sie selbst sei hinderlich. 🙂
KK
26. Oktober 2022 @ 22:18
„kostenloser Verteidigung durch die USA“
Die Verteidigung durch die USA war nie kostenlos – sie hat immer, und zwar bis heute, die Souveränität und staatliche Integrität gekostet.
Oder wie kann es sonst sein, dass ein US-Verteidigungsminister 40 andere einschliesslich der deutschen Verteidigungsministerin zu einer – jetzt regelmässigen – Konferenz auf deutschem Hoheitsgebiet einlädt?
Oder dass die US-Streitkräfte mittels via Ramstein gesteuerter Drohnen weltweit Kriegsverbrechen begehen (die ja nach jüngst aktualisierter Rechtsklage nun niemand mehr ungestraft leugnen können dürfte)?
ebo
27. Oktober 2022 @ 07:36
Stimmt, der politische Preis ist hoch. Das hat in Deutschland aber noch nie für große Debatten gesorgt
Pique Dame
27. Oktober 2022 @ 09:06
Die „kostenlose Verteidigung“ ist mir auch aufgestoßen… Der Vorwurf ist ja O-Ton Donald Trump. Vorschlag zur Güte: Wie wäre es, wenn wir einfach mal die Kosten, die wir haben, um die Flüchtlinge aus den US-Kriegen aufzunehmen, damit verrechnen. Mir ist nämlich nicht bekannt, dass die USA hier jemals einen Cent bezahlt hätten. Jenseits davon, macht mir persönlich diese „Verteidigung“ eher Angst als dass sie mir ein Gefühl der Sicherheit gäbe.
european
26. Oktober 2022 @ 21:25
Wenn Sie das reine BIP betrachten, dann haben Sie natürlich völlig Recht. Da stehen wir unangefochten auf dem Siegertreppchen. In einem Binnenmarkt mit abgeschlossenen Accounts geht das aber ausschließlich zu Lasten der Anderen. Das wiederum ist simple Buchführung.
Unter einem Powerhouse verstehe ich ein Land, das die anderen mitzieht und man gemeinsam gewinnt und nicht eines, das die anderen ausnimmt.
Aber gerade das passiert in einem Ausmaß , dass man sich wundert, dass die anderen noch mitspielen.
Robby
26. Oktober 2022 @ 21:00
Deindustralisierung und Dekarbonisierung?
Sie meinten sicher Deindustralisierung.
Weil das Erste gar nicht möglich ist.
european
26. Oktober 2022 @ 18:12
Deutschland war nie das europäische Powerhouse. Es sah und sieht sich gern in dieser Rolle. Wir sind einbildungskrank, überheblich und extrem wenig lernfähig.
Deutschland (und auch andere Exportisten) ist der gnadenlose Ausbeuter Europas, mit den entsprechenden politischen Folgen in den europäischen Nachbarländern. Der Aufstieg von Rechts liegt nicht zuletzt im deutschen Merkantilismus und der Merkel’schen Austeritätspolitik begründet. (siehe Brüningsche Spargesetze)
Dass über 30 Prozent der Deutschen absolut nicht sparfähig sind, während gleichzeitig Firmen wie Daimler zuletzt 5 Euro pro Aktie an Dividende gezahlt haben, liegt an exakt dieser Politik.
Von außen betrachtet ist Deutschland m.E. nicht europafähig. Weder Politik noch Medien noch Firmen. Nur 25% der deutschen Studenten absolvieren überhaupt ein Erasmussemester. Wir pflegen unseren eigenen Kokon, unser eigenes überhebliches Weltbild. Nur so kann man sich erklären, dass wir in der Finanzkrise die Südländer als PIGS, als Schweine bezeichnet haben, jener „Club Med“, der angeblich auf unsere Kosten lebt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir haben auf Kosten der anderen gelebt. Nur so wird man Exportweltmeister und Exporteuropameister. Das ist keine Folge von zufälliger Überschussproduktion, sondern von gezieltem Austricksen über die Löhne. Wir wollen verkaufen, aber nichts abkaufen. So einfach ist das.
Es wird Zeit für eine Lernkurve. Vielleicht bekommt Deutschland jetzt jene Rosskur, die es anderen aufgezwungen hat. Die Blaubraunen warten schon. In Ostdeutschland sind sie stärkste Kraft.
ebo
26. Oktober 2022 @ 20:40
Doch, nach der Wirtschaftsleistung war Deutschland lange Europas Powerhouse. Die EU-Politik beruhte auch zumindest unter Kanzler Kohl darauf, dass Berlin das Scheckbuch zückte. Unter Schröder und Merkel hat sich das nach und nach geändert, die Einführung des Euro spielte sicher auch eine Rolle.
Eine andere Frage ist, wie die deutschen Geschäfte gemacht und die Überschüsse erzielt wurden. Liberalisierung, Globalisierung und Merkantilismus gingen Hand in Hand, die deutsche Austeritätspolitik wurde der EU dann beinahe zum Verhängnis. Da sind wir nicht weit auseinander, denke ich…