Deutsches Recht über alles?
Brüssel und Karlsruhe streiten über das Europarecht, Großbritannien meldet mehr Corona-Tote als Italien, Verbraucher wollen keine “Zwangsgutscheine”: Die Watchlist EUropa vom 06.05.2020.
Kein Beinbruch, aber auch keine Bagatelle: So lassen sich die Reaktionen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur europäischen Antikrisen-Politik zusammenfassen. Die Karlsruher Richter hatten massive Kritik am Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) geäußert. Politik und Börse zeigten sich irritiert.
An der Frankfurter Börse ging es erst steil bergab, dann erholten sich die Kurse wieder. Nach dem ersten Schock über die harschen Worte aus Karlsruhe beruhigten sich die meisten Anleger damit, dass die Zentralbank ihr wichtiges Sonder-Programm gegen die Coronakrise weiterführen darf.
Auch die Brüsseler Behörde schwankte zwischen Aufregung und Abwiegeln. Bei der Urteilsverkündung um zehn Uhr hatten viele EU-Experten noch an ihren Monitoren geklebt, um den Richterspruch live mitzuverfolgen. Zwei Stunden später warb Chefsprecher Eric Mamer schon wieder für Gelassenheit.
Man werde das Urteil in aller Ruhe analysieren, sagte Mamer. Fragen nach der Drei-Monats-Frist, die das Karlsruher Gericht gestellt hat, wehrte er ab. Dabei könnte sich diese Frist als Zeitbombe erweisen – und die Bundesbank zum Rückzug aus dem EZB-Programm zwingen.
Dass sich die auch die Brüsseler Behörde Sorgen macht, lässt sich aus einer weiteren Bemerkung Mamers heraus-lesen. Das Europarecht habe Vorrang, sagte der Sprecher von Kommissionschefin Ursula von der Leyen, die Urteile des Europäischen Gerichtshof seien für alle bindend.
Warnung an Karlsruhe
Das lässt sich als Warnung an das Bundesverfassungsgericht verstehen, die nationalen Kompetenzen nicht zu überdehnen. Die Richter hatten sich offen gegen den EuGH in Luxemburg gestellt. Dies könnte zu schweren juristischen Konflikten führen, fürchtet man nun in Brüssel.
Denn wenn deutsches Recht für die deutsche Politik wichtiger werden sollte als Europarecht, könnte dies nicht nur die Geldpolitik der EZB, sondern die gesamte Antikrisenpolitik der EU gefährden. Das “deutsche Europa” (Ulrich Beck) wäre dann auch noch juristisch zementiert…
Siehe auch Anleihenkäufe: Nicht illegal, aber unverhältnismäßig? sowie die Rubrik “Deutsches Europa”
P.S. Das Urteil sorgt auch in Polen für Wirbel. Warschau sieht sich nämlich im Streit um ihre Justizreform bestätigt. “Der deutsche Verfassungsgerichtshof hat heute direkt gesagt, dass die EU soviel darf, wie ihr die Mitgliedsstaaten erlauben”, erklärte Vize-Justizminister Sebastian Kaleta. Damit werde auch die EU-Kommission in die Schranken gewiesen…
___STEADY_PAYWALL___
Watchlist
Am Mittwoch findet der Westbalkan-Gipfel statt – als Videokonferenz. Ursprünglich war ein pompöses Treffen in Zagreb geplant. Es sollte den Start der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien zelebrieren und den Höhepunkt der kroatischen EU-Ratspräsidentschaft bilden. Doch Corona hat den schönen Plan durchkreuzt…
Was fehlt
Der britische Negativ-Rekord bei COVID-19. Großbritannien hatte am Dienstag als erstes Land in Europa insgesamt mehr als 30 000 Todesfälle in Verbindung mit dem neuartigen Coronavirus bestätigt. Damit “schlägt” UK sogar Italien und Spanien. Bei der “Todesrate” liegt allerdings weiter Belgien vorn. – Mehr zum Thema Corona hier.
Das Letzte
Gute Nachricht für verhinderte Urlauber: Die von Berlin favorisierte Kostenerstattung per Gutschein wird es wohl doch nicht geben. Brüssel bleibt hart und fordert, dass Kunden auch ihr Geld zurück verlangen können. Die Verbraucherzentrale Bundesverband begrüßte das Aus für “Zwangsgutscheine”. – Mehr zum Thema Urlaub hier
Hat Ihnen dieser Newsletter gefallen? Dann empfehlen Sie ihn bitte weiter – oder unterstützen Sie diesen Blog mit einer kleinen Spende. Mehr Infos durch Klick auf den Button!
European
6. Mai 2020 @ 14:41
@Holly01
“Das Recht (wie Gesetz) definiert das Geld und seine Qualität.”
Das scheinen Juristen zu glauben und deswegen haben wir die Probleme, die wir haben. Gut zu beobachten am Schuldenhype. Wir sollen keine Schulden machen, aber jeder soll für’s Alter sparen. Wie denn, wenn keiner Schulden macht? Allein schon die Idee, dass wir zuerst sparen und dann investieren, zeugt von fatalem Unverständnis des Geldsystems, das den Kredit zwingend notwendig braucht, um überhaupt zirkulieren zu können.
Nein! Finanz- und Wirtschaftsministerien gehören in die Hand von Makroökonomen und Finanzwissenschaftlern, die das Geldsystem verstanden haben.
European
6. Mai 2020 @ 11:18
Als begeisterte Makroskop-Leserin hatte ich schon gestern auf eine Analyse gehofft. Jetzt ist sie da – und hier nachlesbar:
https://makroskop.eu/2020/05/todesstoss-fuer-die-waehrungsunion/
Es deckt sich in etwa mit Marcel Fratzscher’s gestriger Einordnung, ist aber natürlich viel differenzierter.
https://www.diw.de/de/diw_01.c.788166.de/urteil_aendert_nichts_grundlegendes_an_der_ezb-geldpolitik_und_ihrer_krisenbekaempfung.html
Holly01
6. Mai 2020 @ 11:41
Ich sehe 2 Nebenwirkungen, beide sind eher unerfreulich.
– Das gescheiterte deutsche Modell bekommt seinen Sündenbock.
– Das Urteil führt zu einer völlig anderen Reaktion der EZB und des EUGH.
Die Forderung nach der Verhältnismäßigkeit dürfte eine viel stärkere Fokussierung auf die EU Gesetze mit sich bringen.
Ziel der EZB und der Notenbanken:
” https://dejure.org/gesetze/AEUV/127.html ”
Als erste Referenz genannt:
” https://dejure.org/gesetze/EU/3.html ”
Als zeite Referenz genannt:
” https://dejure.org/gesetze/AEUV/119.html ”
Bis zu diesem Urteil haben wir inhaltlich gestritten, was sinnvoll wäre.
Nach diesem Urteil könnte Deutschland ganz offiziell zum Störfaktor erklärt werden, den die EU nach ihren Aufgaben und Zielen nun “einfangen” und “ausgleichen” müssen.
Deutschland könnte im Ergebnis von außen nun die Politik heraufbeschwören, die es selbst immer abgelehnt hat.
Mit der EZB kann man auch nicht wirklich streiten, Die macht der Notenbank ist grenzenlos und die EU hat sie für autark und unabhängig erklärt, ja man DARF sie nicht VERSUCHEN zu beeinflussen.
Das könnte ein krasses Eigentor werden.
vlg
Holly01
6. Mai 2020 @ 11:56
Die EZB/EUGH könnten zum Schluss kommen, die BRD habe es versäumt, ihre rechtlichen Grundlagen, an die EU Ziele auszurichten und damit ihre Verpflichtung zur Integration nicht erfüllt.
Die BRD hätte damit den deutschen Rechtsraum entgegen den Zielen aus Artikel 3 AEUV rechtswidrig falsch entwickelt.
Vorwürfe sind immer so eine Sache …….
Das Bundesverwaltungsgericht könnte dann auch schwerlich mit einem Austritt drohen oder diesen verlangen.
Das ließe sich als Argumentationslinie ziemlich gut entwickeln und verhandeln würde darüber der … na wer weiß es 🙂 ….. EUGH ….
vlg
European
6. Mai 2020 @ 11:58
@Holly01
Eines unserer Hauptprobleme ist, dass Juristen nur selten etwas vom Geldsystem verstehen und das nicht einsehen. Jeder stimmt zu, dass ein Justizministerium mit einem Juristen besetzt werden sollte. Aber bei Finanzen und Wirtschaft glaubt jeder Jurist, dass er das natürlich auch kann. Sämtliche deutsche Finanzminister, einschl. Weigel, waren und sind aber Juristen – mit entsprechend fatalen Folgen. Siehe Griechenland, siehe Maastrichtkriterien etc. Altmaier – aktuell Wirtschaftsminister – ist auch Jurist. Schäuble – Jurist. Möchtegern-Irgendwas Merz – Jurist. etc.
Die Einschätzung auf Makroskop geht etwas weg vom juristischen Teil, der – nach dem Schock besehen – sich als nicht so dramatisch herausstellt, wie das die Marktschreier so von den Dächern pfiffen. Auf die aktuelle Situation hat es z.B. keinen Einfluss. Wenn dann in einigen Jahren wieder mal jemand klagt, dann werden wir sehen.
Holly01
6. Mai 2020 @ 12:35
@ European:
Das Recht (wie Gesetz) definiert das Geld und seine Qualität.
Ob das Nun Eigentumsrecht oder Handelsrecht oder die Regeln des Bank-/ Versicherungswesens sind ist völlig egal.
Das Urteil ist nur marginal direkt wirksam.
Die Juristen legen den Finger in eine andere wunde, die gerne weg geblendet wird und in der Wirtschaft jetzt schlagend wird:
Es gibt eine Pflicht zur Integration.
Die Nationalstaaten sind keine (gemeinsame) Republik.
Die Nationalstaaten sind die Herren und Hüter der Verträge.
An welcher Stelle führt die Integration zur Auflösung der Nationalstaaten als ENTSCHEIDER.
Als Gebilde ist das kein Problem, aber an welcher Stelle ist die Integration zB beim Bank-/Versicherungswesen so stark, das ein nationaler Weg inhaltlich gar nicht mehr möglich ist.
.. und was passiert dann?
Das Bundesverwaltungsgericht stellt ja der Bundesregierung und dem Bundesrat, wie der Deutschen Bundesbank eine Frage: Was macht Ihr in diesem System?
Die wurden ja für schuldig gesprochen, ihren Aufgaben aus dem nationalen Recht nicht gerecht zu werden.
Das ist ziemlich juristisch und ziemlich spannend …
Die einfache Antwort: Einer Bundesregierung kann es grundsätzlich egal sein, woher das Geld kommt und warum, wenn sie über die Ausgaben entscheidet und damit Haushalthoheit hat, ist eben zu kurz gedacht.
vlg
Kleopatra
6. Mai 2020 @ 09:25
Das Bundesverfassungsgericht kann selbstverständlich darüber urteilen, ob die Beteiligung an einem internationalen Staatenbund und die Art, wie sich der deutsche Staat darin verhält, nach dem Grundgesetz zulässig ist. Spätestens seit der Austritt aus der EU in aller Form als Möglichkeit verfügbar ist, könnte im Extremfall das BVerfG die Bundesorgane verpflichten, den Austritt Deutschlands aus der EU zu erklären; und in diesem Fall wäre der Konflikt zwischen Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht aufgelöst.
Das BVerfG hat sich immer für dem EuGH übergeordnet gehalten, zumindest theoretisch vertritt es seit langem die Position, dass der EuGH ihm nichts zu sagen hat (praktisch hat es den offenen Konflikt bisher hingegen vermieden). M.W. war das polnische Verfassungsgericht das einzige in der EU, das das ebenfalls so gesehen hat; das wäre also keine Neuerung seit der PiS-Regierung.
Peter Nemschak
6. Mai 2020 @ 08:47
An einer Reform des Euro führt über kurz oder lang kein Weg vorbei. Will man keine Finanzunion, muss die Eurowährungszone verkleinert werden.
Holly01
6. Mai 2020 @ 09:44
Nach Ihrer Logik müssen wir den Länderfinanzausgleich dringend reformieren und die Anzahl der Bundesländer verkleinern ….
Nein, müssen wir nicht, wir müssen nur endlich tun, was (durch Recht und Gesetz) angezeigt ist.
Denn nur egoistische Wünsche extrem kleiner Minderheiten bedienen fördert kein Gemeinwesen.
vlg
Peter Nemschak
6. Mai 2020 @ 16:47
Ohne bundesstaatliche politische Struktur ist ein Finanzausgleich illusorisch. Daher muss die Eurozone auf ökonomisch, institutionell und politisch (Beispiel: Sozialpartnerverhalten) einigermaßen homogene Gebiete reduziert werden. Das hat mit egoistischen Wünschen extrem kleiner Minderheiten nichts zu tun sondern mit ökonomischer Logik. Was hat seinerzeit die sogenannte “Hartwährungszone” ermöglicht ?
European
6. Mai 2020 @ 17:31
@Peter Nemschak
Zunächst muss erst einmal begriffen werden, dass des einen Überschuss des anderen Defizit ist. Wenn Deutschland einseitig seine Löhne massiv senkt, bedeutet es zum einen, dass es seine Produkte enorm verbilligt, es damit seine Mitbewerber in der Eurozone ausbootet und zum anderen die heimische Bevölkerung nicht genug finanzielle Mittel hat, um die eigenen Produkte zu kaufen geschweigedenn ausländische Produkte.
Wenn in der Eurozone die Konten am Ende ausgeglichen sein müssen, was der Fall ist, heißt das, dass es für Deutschland eine Überschussgrenze von 3% geben muss, ebenso wie es für andere eine solche Defizitgrenze gibt.
Italien z.B. hat weniger ein Verschuldungsproblem denn ein Einnahmenproblem. Wenn Deutschland nun seine Mitbewerber zwingt, die Löhne um 30plus Prozent zu senken, haben wir europaweit einen Griechenland-Effekt. Das BIP sinkt entsprechend, weil die Leute weniger kaufen können. Heißt, Deutschland kann auch weniger absetzen. Heißt auch, dass die Staatsschulden steigen, ohne dass überhaupt ein Kredit aufgenommen wurde.
Griechenland:
Vor der “Rettung” – BIP 300 Mrd. Staatsverschuldung 100%
Nach der “Rettung” – BIP 200 Mrd. Staatsverschuldung 180%. Lohnsenkung von mehr als 30%.
Die Eurozone kann sich perfekt entwickeln, wenn jedes Land die Löhne entsprechend der Produktivität erhöht. Deutschland’s Löhne hinken ca. 30% hinter der BIP-Entwicklung her. Entspricht in etwa dem Lohnabstand zu Frankreich, welches übrigens alles richtig gemacht hat. Die haben sich an UNSERE Regeln gehalten, als da wären: Lohnentwicklung gemäß Produktivität plus 1.9% Inflation.
Nicht die anderen müssen runter. Deutschland muss rauf. Wenn die Südländer die Eurozone verlassen, wird das über die Währung korrigiert. Heißt, dass ca. 50% der Deutschen immer noch arm sind und von den oberen 50% viele ihre Jobs verlieren, weil die Währung genau um diese 30% aufwerten wird.
Holly01
6. Mai 2020 @ 17:47
Seinerzeit hat die “Hartwährungszone” es ermöglicht, die reichen Deutschen, sehr schnell, sehr effizient noch sehr viel reicher zu machen.
“Hartwährungszonen” schreiben bei den abhängig Beschäftigten ab.
“Hartwährungszonen” verzichten auf Wachstum und stellen in der Masse weit weniger Kredite zur Verfügung und da wo sie es tun, sind diese Kredite ungleich viel höher verzinst.
“Hartwährungszonen” bringen weniger “Zinsgewinner” hervor, die weit aus höhere Zinseinnahmen haben, als “Weichwährungszonen”.
“Hartwährungszonen” trennen zwischen “Zugewinnern” und “Verlustbehafteten” weit aus härter. Darum verlieren in “Hartwährungszonen” überproportional häufiger Menschen mit hohem Lebensrisiko.
In einer “Hartwährungszone” müssen entweder schon “Haben” oder von Außen “bekommen”, um sich durchzusetzen.
Wissen Sie, ich kann lesen …..
Darum weiß ich auch, das die Deutschen nicht doof sind, sondern arm sind, weil sie strukturell betrogen wurden. Sehr stark daran mit gewirkt hat die Deutsche Bundesbank.Ich danke jeden Tag an dem die Sonne aufgeht und die Deutsche Bundesbank in ihrem Wirken etwas eingeschränkt ist meinem Schicksal.
Ich hoffe das beantwortet die Frage.
vlg
Holly01
6. Mai 2020 @ 07:33
Nach diesem Urteil könnten sich alle Diskussionen erledigt haben.
Die EZB KANN jetzt für jedes Euroland individuelle Programme aufsetzen, um den Artikel 3 zu erfüllen.
In EU weiten Angelegenheiten gilt auch der Vorbehalt des Bundesverfassungserichts nicht. Der Vorbehalt ist ausdrücklich NATIONAL.
Auf EU Ebene ist es ALLEINIGE Aufgabe des EUGH das zu kontrollieren und zu überwachen.
Ende aus die maus …..
vlg
Holly01
6. Mai 2020 @ 08:31
Na? Merkel? Austreten und eigene Währung die uns ruiniert? Ignorieren und zuschauen, wie die EZB die “Verwerfungen” im Binnenmarkt bereinigt und nebenbei die Deutsche Bank und die Commerzbank rettet? oder Am Ende mitmachen?
Welches Schweinerl hättens denn gern?
vlg