Der Fall Tönnies und das asoziale EUropa
Wenn es um den Fall Tönnies geht, dann ist die EU noch langsamer als das Land NRW. Erst jetzt beginnt sich Brüssel für den Skandal zu interessieren – doch Taten lassen weiter auf sich warten. Das “soziale Europa” bleibt ein leeres Versprechen.
Als Erste brach Sarah Wiener das Schweigen: Die grüne Star-Köchin aus Österreich zeigte sich auf Facebook schockiert über die Zustände in der Fleischfabrik.
Das System der Fleischproduktion sei nicht nur unappetitlich, tierleiderzeugend und ressourcenvernichtend, sondern auch menschenverachtend und ungerecht, schrieb Wiener.
Danach meldeten sich die CDU-Abgeordneten Pete Liese und Dennis Radtke. Bei Tönnies habe sich gezeigt, dass die Belüftungssysteme von Schlachthöfen ein Problem seien. Dies müsse EU-weit geregelt werden.
Das zugrundeliegende soziale Problem – die systematische Ausbeutung und “Lagerhaltung” von Leiharbeitern aus Rumänien und Bulgerien – streiften die Europa-Parlamentarier nur am Rande.
Immerhin hat sich dazu nun EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit geäußert. “Saisonarbeiter müssen gleichberechtigt zu allen anderen Arbeitskräften behandelt werden”, sagte Schmit dem “Spiegel”.
Wenn sie unter die EU-Entsenderichtlinie fielen, sei ihre Situation eindeutig: “Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.” Sollte dagegen verstoßen werden, könne es Vertragsverletzungsverfahren geben.
Allerdings ist dies keine “Drohung”, wie der “Spiegel” behauptet. Denn wie das Blatt selbst schreibt, fällt der Fall womöglich gar nicht unter die Entsenderichtline.
Und Kommissionschefin von der Leyen hat bisher nicht erkennen lassen, dass sie das Problem interessiert. Bei jedem kleinen Anlaß geht sie vor die Presse, bei Tönnies nicht.
Von der Leyen hat bisher auch nichts getan, um die Sozialagenda voranzutreiben, die sie von ihrem Amtsvorgänger Jean-Claude Juncker geerbt hat. Im Gegenteil.
Unter dem fadenscheinigen Hinweis auf Corona wurde diese Agenda vertagt, Sozialkommissar Schmit wurde ausgebremst. Dabei schreit gerade Corona nach Sozialpolitik, wie der Fall Tönnies zeigt.
Wann greift Brüssel endlich durch?
Es geht um menschenwürde Arbeits- und Wohnbedingungen, um die Regulierung von Leiharbeit und Subunternehmern, um EU-Standards für Mindestlöhne und vieles andere mehr.
Und es geht darum, osteuropäische Länder wie Bulgarien oder Rumänien endlich als vollwertige EU-Mitglieder zu behandeln, und nicht als “Standorte” für ein Reserveheer von Billigarbeitern.
Der Fall Tönnies hat ein “asoziales EUropa” offenbart – wann greift Brüssel endlich durch?
Siehe auch Soziale Krise: Immer mehr Working poor”
Peter Nemschak
26. Juni 2020 @ 15:32
Billiges Fliegen, Autofahren und Fleisch sind asozial. Würde man die Rahmenbedingungen für die Aufzucht von Nutztieren und ihre Verwertung ändern, würde die Qualität und der Preis steigen und weniger Fleisch konsumiert werden. Dies würde dem Wohl der Menschen, der Tiere und nicht zuletzt dem Umweltschutz dienen. Der Preis ist ein effektives Lenkungsinstrument. Ärmeren Schichten könnte man einen Einkommensausgleich anbieten, den sie für umweltfreundlichere Zwecke verwenden könnten. Unter den gegebenen Umständen erscheint es fraglich, dass wir bei der Vermeidung von CO2-Emissionen große Fortschritte machen werden. Mut gehört nicht zu den herausragenden Stärken unserer Politiker.
European
26. Juni 2020 @ 13:05
Die Franzosen haben das sehr gut geregelt, denn sie haben funktionstüchtige Gewerkschaften. Wer als Ausländer in Frankreich arbeitet, verdient genausoviel wie ein Franzose, völlig egal, wo er herkommt. Damit haben die Franzosen dieses Unterbietungsverfahren direkt unterbunden. Es ist auch unverständlich, warum die Herkunft eines Menschen über seinen Lohn entscheiden sollte. Es sei denn, Lohndumping ist erklärtes Politikum.
Die systematische Entmachtung der Gewerkschaften in Deutschland erfolgte auf politischen Druck. Billiglohn war das erklärte Ziel. Die Zustände in der Fleischindustrie war wirklich lange bekannt. Hier dazu ein Bericht aus dem Jahr 2005. Könnte heute morgen in den news erschienen sein. Nichts hat sich geändert.
https://www.heise.de/tp/features/Billiglohn-im-Schlachtgewerbe-3438867.html
Es ist diese unendliche Scheinheiligkeit, die diese Debatte so absurd erscheinen lässt und ich frage mich immer wieder, mit welchem Recht Deutschland von anderen Ländern Reformen verlangt. Wir haben ein zerstörerisches System eingeführt, das nicht nur die Gesellschaft gespalten hat, sondern auch europaweit den Boden für den Aufstieg von Rechts wieder bereitet hat.
https://de.wikipedia.org/wiki/Deflationspolitik
@Kleopatra
Es war Ursula von der Leyen, die mit “Make it in Germany” ausländische Fachkräfte anwerben wollte. Wie perfide ist das. Erst unterbieten wir sie. Dann grasen wir alles ab, was geht. Wir drängen sie in unnötige Sparprogramme und verhindern inländische Investitionen. Gleichzeitig verhindern wir durch deutsche Lohnsenkungen, dass Deutschland den Nachbarn die Produkte abkauft und zu Einkommen verhilft. Die Folge ist, dass die Staatsschulden automatisch steigen, denn sie werden am BIP gemessen. Die Südländer einschl. Frankreich haben ein Einnahmenproblem und schon allein dadurch eine steigende Schuldenquote.
Und dann spielen wir uns als Retter der Jugendlichen auf.
Man kann gar nicht so viel essen, wie man k*tzen könnte.
Mittlerweile kommt Einsicht in die Bude. Die Hans-Böckler-Stiftung hat ein ganz interessantes Paper herausgebracht, das die europäische Schieflage sehr gut beleuchet und auch Lösungen anbietet. Z.B. Überschussgrenze i.H. der Defizitgrenze. Lohnerhöhungen in Deutschland, Anpassung an die Produktivität etc.
https://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_159_2020.pdf
Man wird sehen, was passiert. Und ausgerechnet Deutschland hat nun den Ratsvorsitz. Machen wir damit den Bock zum Gärtner?
Peter Nemschak
26. Juni 2020 @ 16:09
Maßnahmen zur Erhöhung der Produktivität bei den defizitären Handelspartnern Deutschlands in der EU würden auch helfen Ungleichgewichte zu verringern.
Kleopatra
26. Juni 2020 @ 08:18
Das Ziel, “osteuropäische Länder wie Bulgarien oder Rumänien endlich als vollwertige EU-Mitglieder zu behandeln, und nicht als ‘Standorte’ für ein Reserveheer von Billigarbeitern”, ist richtig, fraglich ist aber, wie das gehen kann. Schon innerhalb der Gruppe der westlichen Mitgliedstaaten gibt es deutliche Unterschiede im Lohnniveau und der Lohnentwicklung, und auch die Mittelmeerländer, die nicht zum ehemaligen Ostblock gehören, wurden regelrecht systematisch als Arbeitskräftereservoirs behandelt (ich erinnere mich an Programme, um arbeitslose spanische Jugendliche auf deutsche Lehrstellen zu vermitteln). Das Lohnniveau eines Landes kann nicht auf Pfiff aus Brüssel auf mitteleuropäisches Niveau angehoben werden, und solange ein erheblicher Unterschied besteht, wird es attraktiv sein, eher in der deutschen Schlachtbranche zu (für Deutschland) extrem niedrigen als in Rumänien zu rumänischen Löhnen zu arbeiten.
Wir haben auch die Grundsatzfrage: sieht man die Arbeitskräftemobilität als Element der persönlichen Freiheit (und daher prinzipiell eine gute Sache) oder als Produktionsfaktor? Aus Sicht der Unternehmen ist die Möglichkeit, auf ein Arbeitskräftereservoir zurückzugreifen, eine praktische Sache, für die einzelnen Nationalgesellschaften bringt sie Verwerfungen mit sich. Man kann allerdings über die negativen Folgen der Arbeitskräftemobilität kaum reden, ohne Dogmen anzugreifen, und wohl deshalb konzentrieren sich die hier Zitierten auf Nebenthemen.