„Das Gespenst der Demokratie“
Gestern habe ich in diesem Blog vom gemeinsamen Auftritt der beiden Ex-Minister Montebourg und Varoufakis in Frankreich berichtet. Sie plädieren für eine „Euro-Demokratie“. Hier nun die Rede von Janis.
Sie beginnt mit einer Anspielung und das Kommunistische Manifest:
A spectre is haunting Europe — the spectre of democracy. All the powers of old Europe have entered into a holy alliance to exorcise this spectre: The state- sponsored bankers and the Eurogroup, the Troika and Dr Schäuble, Spain’s heirs of Franco’s political legacy and the SPD’s Berlin leadership, Baltic governments that subjected their populations to terrible, unnecessary recession and Greece’s resurgent oligarchy.
Wie es weiter geht, steht hier – auf dem Blog von Varoufakis, mehr zum Demokratie-Problem hier
Peter Becker
11. September 2015 @ 21:16
@Peter Nemschak: „Eine Gesellschaft, die nicht auf Profitorientierung beruht, wird jene Güter und Dienstleistungen nicht produzieren, die sich die Armen erhoffen“
Das ist der Grundirrtum, dem anscheinend weltweit – auf jeden Fall in Deutschland – die meisten Menschen unterliegen.
Ganze Gesellschaften können dauerhaft nicht profitorientiert handeln. Sie beschreiben hier den Grundirrtum, der sich beispielsweise auch in den Äußerungen und dem Handeln unserer politischen Elite ausdrückt: „marktkonforme Demokratie“, „Exportweltmeister“ und so weiter. Damit wird betriebswirtschaftliches Denken auf die Volkswirtschaften übertragen, und das kann nicht funktionieren. Wir werden übrigens in absehbarer Zeit auch sehen, dass betriebswirtschaftliches Denken ganz allgemein nicht mehr funktionieren wird. Das ist ja jetzt schon so, wenn Sie die weltweit (!) steigenden Arbeitslosenzahlen betrachten.
Der alte Traum vom endlosen (Markt-)Wachstum ist ausgeträumt. Mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft werden immer mehr Güter hergestellt. Weil dafür immer weniger Menschen beschäftigt werden müssen/können, gibt es immer weniger Menschen mit der nötigen Kaufkraft, um die wachsende Gütermenge zu konsumieren. Diesen Prozess können Sie nicht aufhalten: Die steigende Zahl an Gütern kann nicht mehr abgesetzt werden auf Dauer. Damit hat dieses heute weltweit praktizierte System (man nennt es allgemein Kapitalismus) seinen Endzustand erreicht.
Das ist weltweit so, wenn auch nicht überall zeitgleich im selben Stadium. Zu den Ausgesonderten gehören die Völker Afrikas schon längst, und auch hier inmitten des bestens entwickelten Europas nimmt die Zahl der Aussortierten stetig zu.
Die Entwicklung hin zur Finanz„industrie“ (ein irres Wort für das, was dort betrieben wird) hat diesen Prozess beschleunigt – folgerichtig. Heute noch von einer „Umverteilung von oben nach unten“ zu reden, widerspricht jeder sichtbaren und auch messbaren Realität. Die Aussagen von @Carlo sind da ganz und gar valide. Aussagen wie die Ihren, Herr Nemschak, sind – wenn ich das mal ein wenig despektierlich ausdrücken darf – nur noch das berühmte Pfeifen im Wald.
Die Alternative, nach der Sie fragen, ist heute noch nicht entwickelt. Sie verlangen zu viel von anderen, wenn Sie ein fertiges Konzept erwarten. Wie denn auch, wenn die Mehrheit das Problem noch gar nicht als solches akzeptiert hat? Einen „Führer“, der uns den Weg zeigen soll, wollen auch Sie doch hoffentlich nicht herbeisehnen. Das heißt aber auch, dass Ihnen heute niemand sagen kann, wohin das alles uns führen wird. Da wäre es nicht schlecht, wenn mehr Leute sich der Problematik bewusst würden und sich beim Ersinnen der Alternative(n) beteiligen würden.
Vor zehn Jahren war ich Anfang 50 und dachte, zu meinen Lebzeiten würde das vorhandene System schon noch durchhalten, so dass ich mein Leben in Frieden zu Ende leben kann. Heute bin ich Anfang 60 und mir dessen gar nicht mehr sicher. Derzeit verändern sich die Zustände (Krieg, Flucht, Unsicherheit, sozialer Abstieg wachsender Teile der Mittelschicht, Ungleichverteilung der natürlichen Ressourcen, Ungleichverteilung der finanziellen Ressourcen, Säbelgerassel) ja nun wirklich rasant.
Peter Nemschak
27. August 2015 @ 09:43
@Carlo Eine Gesellschaft, die nicht auf Profitorientierung beruht, wird jene Güter und Dienstleistungen nicht produzieren, die sich die Armen erhoffen. Bei einer Staatsquote von derzeit 50% und mehr erfolgt die Umverteilung von oben nach unten. Dies nur zur Klarstellung. Alternativen, vor allem solche, die in der Geschichte bereits funktioniert haben, sind Sie uns in ihrem heiligen Zorn schuldig geblieben.
Carlo
27. August 2015 @ 19:08
„Eine Gesellschaft, die nicht auf Profitorientierung beruht, wird jene Güter und Dienstleistungen nicht produzieren, die sich die Armen erhoffen“
Herr Nemschak, wieder Phrasen. Was erhoffen sich denn die „Armen“? Ausreichend zu essen, ein Dach über dem Kopf, Kleidung, ein menschenwürdiges Einkommen und vor allem Frieden? Schon diese Leistungen wären ein Profit; zugegeben anderer Art als Sie meinen.
Das aktuelle System sichert diese Güter und Dienstleistungen jedenfalls nicht. Und kommen Sie mir, in einer globalisierten Ökonomie, nicht wieder mit einer fragwürdigen deutschen oder europäischen Nabelschau. Selbst in den USA bekamen 2012 101 Millionen Menschen subventionierte Nahrungsmittelhilfen vom Staat. Ein Drittel der Bevölkerung. Die Zahl der Betroffenen ist höher als die Anzahl der Vollzeitjobs im privaten Sektor. – Im reichsten Land der Erde.
Wo ist denn der Wohlstand hingewandert, wenn nicht zu den Armen? Vom Frieden ganz zu schweigen.
„Bei einer Staatsquote von derzeit 50% und mehr erfolgt die Umverteilung von oben nach unten.“
Dies ist wieder ein Beispiel für Ihre komplett einseitige Sicht auf die Dinge. Die entscheidende Umverteilung passiert anders und wird über das Geldsystem realisiert. Es geht von den arbeitenden Bürgern zu leistungslosen Einkommen und ist sogar in den Staatsausgaben eingepreist.
Eigentum an Grund und Boden/Immobilien wird zu Pachten /Mieten, Unternehmensanteile „erzeugen“ Dividenden/Ausschüttungen oder machen Entnahmen möglich, Geldvermögen „erwirtschaften“ Zinserträge. Diese Einkünfte sind Renten, Einnahmen ohne, dass ihnen eine eigene Arbeitsleistung gegenüber steht. Nach den „5 Weisen“ machten solche Erträge zwischen 2006-2009 im Durchschnitt 25,8% des deutschen Volkseinkommens aus (bereinigt). 80% davon flossen den „oberen“ 20% der Haushalte zu (die 20% sind keine homogene Gruppe – es gibt immense Verteilungsunterschiede). Die wohlhabenden Haushalte bekamen also von den weniger wohlhabenden 25% des Sozialproduktes leistungslos. Das hat mit Demokratie nichts mehr zu tun.
„Dies nur zur Klarstellung.“
Jetzt können Sie überlegen, wie eine solche Umverteilung organisiert wird. In den Massenmedien findet man dazu nichts. Ich entnahm meine Daten: Professor Christian Kreiß, „Wege aus der Finanz- und Wirtschaftskrise: Politische Weichenstellungen“.
Und nein, Herr Nemschak, ich bin Ihnen ganz und gar nichts „schuldig“ (das hätten Sie vielleicht gern) und zweitens bin ich nicht zornig. So gut kennen wir uns nicht, dass Sie dies beurteilen könnten. Wie wäre es, wenn Sie mir ein System zeigen würden, welches „funktioniert“?
In Anbetracht von massiven Flüchtlingsströmen, dauerhafter Massenarbeitslosigkeit, HartzIV, Obdachlosigkeit, Hungersnöten, Umweltverschmutzung und -zerstörung, Massentierhaltung, Kriegen (inkl. 2 verheerende Weltkriege), Banken- und Währungskrisen, undemokratische Umverteilung … können Sie das bestehende System wohl nicht meinen, oder?
Im Übrigen kennen Sie meine Antwort. Sie erinnern sich?: „Strengen Sie mal Ihr ideologisch verformtes Gehirn an.“
Carlo
26. August 2015 @ 16:10
Die aktuellen Demokratien sind immer (partei)ideologische Diktaturen von Mehrheiten. Freiheit des Individuums – Fehlanzeige. Genau dies ist eines der Probleme der modernen Demokratien, Herr Nemschak.
Parlamentarismus ist das beste Beispiel. Und falls Sie mich fragen sollten, wie man es anders machen könnte, dann würde ich Ihnen antworten: „Strengen Sie mal Ihr ideologisch verformtes Gehirn an.“
Ich weiß, dass Sie mich dies niemals fragen würden.
Und noch etwas: Ein Individuum, das zum Wettbewerb gezwungen ist, weil es von Geburt verschuldet ist (das fängt mit der Miete für das Krankenhausbett, in dem man geboren wird, an), ist nicht frei. Die Freiheit des Individuums ist wieder so eine neoliberale Floskel.
So wie Varoufakis schreibt und sich dabei auf Schäuble beruft: „That democracy ends where insolvency begins.“ (Quelle siehe oben.)
Peter Nemschak
26. August 2015 @ 16:50
Um Ungleichheit bei der Geburt auszugleichen, gibt es den Sozialstaat, der es zumindest tendenziell versucht. Chancengleichheit sollte das Ziel dieses Ausgleichs sein, Ergebnisgleichheit wird es nie geben. Freiheit ist natürlich relativ ebenso wie Selbstbestimmung, aber für die Mehrheit in unseren europäischen Staaten erreichbar. Oder wollen Sie den Nanny-Staat, der den Menschen alles abnimmt, denken inklusive. Das hat mit neoliberal, wie Sie es nennen, nichts zu tun, aber mit bürgerlichen Werten, die in den letzten Jahren verloren gegangen sind.
Carlo
26. August 2015 @ 20:08
Der „Sozialstaat“ verteilt nur um, was er den Bürgern vorher genommen hat. Was daran sozial sein soll, wenn jemandem etwas genommen wird, was er sich erarbeitet hat, erschließt sich mir nicht. Gleichzeitig tut der gleiche Staat nichts dagegen, dass sich leistungslose Einkommen unbegrenzt und ohne Bezug zur Realwirtschaft, exponentiell vermehren können.
Es gab nie Chancengleichheit und es wird sie, mit den aktuellen Demokratien, auch nicht annähernd geben. Eine ökonomische Unmöglichkeit, ebenfalls eine leere Phrase.
Allein wenn 85 Menschen so viel besitzen wie 3,5 Milliarden, habe ich schon Grundfragen an das System.
Zu Ihrer europäischen Nabelschau möchte ich bemerken, dass diese inzwischen ebenfalls völlig unrealistisch ist.
Wenn es in verschiedenen Ländern eine Jugendarbeitslosigkeit gibt, die über 50% geht (sogar offizielle Zahlen), welche Chancengleichheit gibt es dort? Werden diese Menschen in Zukunft die Mehrheit stellen?
Wenn 80% der Bürger die leistungslosen Zinsgewinne der Wohlhabenden (auf Grund von Vermögen) 10% (bei 10% ist der Saldo null) mit eigener Arbeit/Leistung erschaffen und durch Zinsanteile in Waren und Dienstleistungen enteignet werden, wo ist die Chancengleichheit? Ist das noch Demokratie oder irgendeine Form von Sklaverei?
Wenn in Großbritannien inzwischen 38% der Familien (Tendenz steigend) von ihrer eigenen Arbeit (Lohneinkommen) nicht mehr leben können, wo bleibt die Freiheit des Individuums.
Die Konsequenz ist der Nanny-Staat, den man schon längst hat und der gleichzeitig Menschen mit Austeritätsmaßnahmen gängelt, welche eigentlich die Folge von „to-big-to-fail“ sind. Und „to-big-to-fail“ hat nichts mit der von Ihnen so hochgelobten Marktwirtschaft zu tun.
Das Denken wurde den Menschen bisher abgenommen, es wird Zeit, dass sie wieder anfangen, ihre „grauen Zellen“ zu nutzen.
Nachtrag: Natürlich wird es keine „Ergebnisgleichheit“ (wie immer das gemeint ist) geben. Für wen sollte das erstrebenswert sein? Das ist ebenso irreführend, wie dass alle Staaten eine Exportüberschuss erwirtschaften könnten. Eine Gesellschaft, die auf Profitorientierung beruht und mit Haben und Soll agiert, wird immer wenige Gewinner und viele Verlierer erzeugen.
Peter Nemschak
26. August 2015 @ 13:04
Jetzt wird verständlich, dass sich die Gläubiger von den Visionen Varoufakis belästigt gefühlt haben. Die EU hat genug reale Probleme und wenig Gusto, sich von einem selbst berufenen Weltveränderer wortreich in Sachen Demokratie belehren zu lassen. Wenn Varoufakis von seinen Ideen wirklich überzeugt wäre, hätte er für einen Grexit plädieren und Griechenland zum Labor seiner Vorstellungen machen können. Dann wäre er mit einem Schlag seine Gläubiger, aber auch seine Reibebäume, die sein Ego offenbar braucht, los geworden. Die Freiheit des Individuums scheint ihm jedenfalls kein besonderes Anliegen zu sein. Es gibt einen Punkt, ab dem Demokratie zur Diktatur der Mehrheit wird. Wollen wir das ? Lassen wir ihn und seine Gesinnungsgenossen weiter träumen.