Der deutsche Coup, der türkische Wortbruch – und die englische Rache
Die Watchlist EUropa vom 13. Oktober 2020
Wir hatten es vorhergesehen: Die Bundesregierung würde alles daran setzen, den “Fall Nawalny” auf die EU-Ebene abzuschieben – um einen Stopp der deutsch-russischen Gaspipeline Nord Stream 2 oder andere Schäden für die deutsche Wirtschaft zu verhindern.
Nun ist es so weit, der deutsche Coup ist gelungen. Bei ihrem Treffen in Luxemburg verständigten sich die EU-Außenminister am Montag grundsätzlich auf neue Sanktionen gegen Russland. Sie werden mit dem Giftanschlag auf den rekonvaleszenten Kreml-Kritiker begründet.
Die geplanten neuen Russland-Sanktionen, die nur einige suspekte Geheimdienst-Agenten treffen dürften, gehen auf einen deutsch-französischen Vorschlag zurück. Demnach will die EU vor allem einen Verstoß gegen das Verbot der Verwendung von Chemiewaffen bestrafen.
Nawalny ist nach Angaben der Bundesregierung mit einem Gift der Nowitschok-Klasse vergiftet worden, das als Chemiewaffe geächtet ist. Diese Einschätzung wurde von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen OPCW bestätigt.
Allerdings sind die genauen Umstände der Vergiftung Nawalnys immer noch unklar. Zunächst hieß es, er sei am Flughafen Omsk vergiftet worden. Später behaupteten Nawalnys Mitarbeiter, das Gift sei in oder an einer Flasche im Hotelzimmer gewesen. Beweise fehlen.
Die Flasche soll dann im Flugzeug einer deutschen NGO nach Berlin gelangt sein. Seitdem ist sie verschwunden, der OPCW wurde sie nicht vorgelegt. Die Giftgas-Experten haben nach eigenen Angaben nur Blut- und Urin-Proben genommen und dann ausgewertet.
Eine unabhängige Untersuchung fand nicht statt. Russland hatte sie zunächst abgelehnt, später jedoch Amtshilfe der deutschen Behörden erbeten – die diese verweigerten. Die Bundesregierung wandte sich stattdessen an die OPCW, genau wie Russland.
Doch das von Moskau eingebrachte, in den Medien weitgehend verschwiegene Hilfsgesuch (siehe OPCW-Link) wollte Berlin nicht abwarten. Auch die zunächst vehement geforderten unabhängigen Ermittlungen vor Ort in Omsk sind plötzlich nicht mehr so wichtig.
Alles soll offenbar ganz schnell gehen, bevor sich jemand an Nord Stream 2 und die dubiose deutsche Rolle im “Fall Nawalny” erinnert…
Siehe auch “Noch mehr Ungereimtheiten im Fall Nawalny”
P.S. Nawalny hat übrigens Sanktionen gegen Putin oder sein Umfeld gefordert. Doch darauf ging Außenminister Maas mit keinem Wort ein. Offiziell geht es nur um das Giftgas, nicht um die (deutsche) Russland-Politik…
Watchlist
Deutscher EU-Vorsitz, Quo Vadis? Das dürfte sich am Dienstag zeigen, wenn sich die Europaminister in Luxemburg treffen. Es geht um fast alle ungelösten Fragen: EU-Budget, Rechtsstaat, Brexit und Corona. Nur beim EU-Budget konnte Kanzlerin Merkel einen Erfolg einfahren, der nun allerdings vom Europaparlament infrage gestellt wird. Ansonsten ist die EU unter deutscher Führung “in the middle of Nowhere”. – Mehr hier
Was fehlt
Der Wortbruch aus Ankara. Nur zehn Tage nach dem EU-Gipfel, der Türkei-Sanktionen vertagt und einen neuen “Deal” angekündigt hat, spielt Sultan Erdogan wieder mit dem Feuer. Er lässt das Forschungsschiff “Oruc Reis” vor einer griechischen Insel nach Erdgas suchen – dabei sollte damit Schluß sein. Außenminister Maas will nun nach Griechenland und Zypern fliegen, um die Regierungen zu beruhigen. Das Appeasement geht weiter… Mehr hier
Das Letzte
Der Brexit ist vollzogen, doch England ist präsenter denn je – jedenfalls sprachlich. Nachdem die EU-Kommission begonnen hat, das Französische aus ihrer Arbeit zu verbannen – die meisten Meetings werden längst auf Englisch abgehalten – will die neue Europäische Staatsanwaltschaft English only sprechen. Dabei macht das einzig englischsprachige Land der EU – Irland – gar nicht mit, wie J. Quatremer betont. – Mehr hier (Vorsicht, französisch)
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Kleopatra
13. Oktober 2020 @ 08:50
Dass Irland an der Staatsanwaltschaft nicht beteiligt ist, wäre wahrscheinlich kein Grund, irische Beamte dort nicht zu beschäftigen, und Englisch wird ja auch in Malta und Zypern als eine Amtssprache verwendet. Problematisch dürfte eher sein, dass irische Juristen im Zweifel in Common Law ausgebildet sind, was etwas unglücklich wäre, weil es nur noch wenige Länder mit Common Law in der EU gibt; man bräuchte auch Leute mit “Civil Law”-Hintergrund. Absurd ist übrigens, dass der EuGH seinerseits Französisch als interne Sprache hat! Das Hauptproblem dürfte darin liegen, dass vor allem in den “Neuen Mitgliedstaaten” viele allenfalls Englisch können. Sollte sich die EU durch solche Maßnahmen allerdings die Sympathie der Franzosen in dem Grad verscherzen, wie sie schon durch die Sparpolitik die der Italiener verloren hat, kann man nur schwarz sehen.
ebo
13. Oktober 2020 @ 09:48
In der Tat geht es um den kulturellen Background. In diesem Fall um die Rechtstraditionen, die in der englischen Sprache ganz anders verankert sind als in der französischen oder der deutschen.
Zudem wird das Englische, zumindest in Brüssel, nur in einer vereinfachten, bürokritisierten Schrumpfform verwendet. Man spricht “Globish” und verliert den Sinn für Nuancen.
Doch das versteht man im deutschsprachigen Raum leider kaum (noch). Selbst bei deutsch-französischen Regierurngstreffen wird ja fast nur noch Englisch gesprochen…