Bürgerlicher Wahlkrampf
Die Europawahl wird zum Problem für das bürgerliche Lager und seine Chefin, Kanzlerin Merkel. Denn es hat weder ein Programm noch Kandidaten – im Gegenteil: Bei Liberalen und Konservativen zeichnen sich bittere Bruderkämpfe ab. Die Liberalen könnten daran zerbrechen.
Sozialdemokraten und Linke haben es gut: Mit M. Schulz (dem EU-Parlamentspräsidenten) und A. Tsipras (dem griechischen Syriza-Chef) haben sie charismatische und bekannte Spitzenkandidaten.
Auch bei den Grünen dürfte bald Klarheit bestehen: Am 28. Januar endet die Urwahl zwischen den Kandidaten J. Bové, M. Frassoni, R. Harms und S. Keller. Letztere wurde sogar von SPON gehyped.
Ganz anders sieht das im bürgerlichen Lager aus. Merkels Parteienfamilie EVP will erst im März ihren Kandidaten küren. Bisher konnte sich Merkel nicht mal entscheiden, welches EU-Amt dem glücklichen Gewinner winkt.
Soll die stärkste Fraktion nach der Europawahl automatisch den Kommissionschef stellen, wie dies die Sozis fordern – und der Lissabon-Vertrag immerhin nahelegt?
Oder soll es keinen Automatismus, aber eine Präferenz geben? Oder versinkt der Sieger in der Versenkung, wie bisher? Und wer soll eigentlich antreten?
Ihr Interesse bekundet haben eigentlich nur zwei: EU-Binnenmarktkommissar M. Barnier und Ex-Eurogruppenchef J.-C. Juncker. Merkel hätte aber lieber den Polen D. Tusk, heißt es.
Noch verworrener ist die Lage bei den Liberalen. Da streiten EU-Währungskommissar O. Rehn und der belgische Ex-Premier G. Verhofstadt um die Spitze. Der eine ist wirtschafts-, der andere sozialliberal.
Da die Liberalen sich nicht einigen können, wurde ein Schiedsverfahren eingeleitet. Auch der neue FDP-Chef Ch. Lindner ist daran beteiligt. Da kann er gleich mal zeigen, was er kann – und wo er steht.
Sollte sich Rehn durchsetzen, wofür vieles spricht, so würden die Liberalen ein entschiedenes „Weiter so“ wählen. Rehn hat gerade erst den Kurs der Troika verteidigt, eigene Ideen lässt er nicht erkennen.
Er ist sozusagen der Kandidat der alten FDP. Wenn er sich durchsetzt, gibt es auch bei der Europawahl keinen Grund mehr, Liberale zu wählen (außer vielleicht für die Finnen, denn Rehn ist Finne).
Siegt hingegen Verhofstadt, so wäre dies eine Kampfansage an Merkel, die den überzeugten EU-Föderalisten schon einmal abgesägt hat. Das war 2004, als er Verhofstadt Kommissionschef werden wollte.
Merkel entschied sich (zusammen mit dem britischen Ex-Premier Blair) für Barroso. 2009 erteilte sie ihm wider besseres Wissen ein zweites Mandat. Heute würde sie ihn am liebsten herauswerfen…
Siehe zu diesem Thema auch „Vormarsch der Rechten“
GS
15. Januar 2014 @ 12:18
ebo, noch kein Wort dazu, dass Hollande sich jetzt in der gleichen Lage wie sein Vorbild Mitterrand befindet? Die ersten 2 Jahre seiner Präsidentschaft komplett vermurkst, jetzt die Wende nach rechts, de facto Akzeptanz der deutschen Politik nach jahrelangem Bashing. Mal sehen, ob er das auch umsetzen kann, und doch nicht nur ein Präsidentchen ist. Jedenfalls ist das doch viel wichtiger als die Frage, welcher Kasper Spitzenkandidat bei den EP-Wahlen ist, zu denen eh keiner hingeht.
ebo
15. Januar 2014 @ 13:28
GS, genau das habe ich erwartet. In Frankreich sind die Sozis traditionell liberaler als die Rechten. Und Mitterrand ist bekanntlich Hollandes Idol. Interessanter ist, dass die Eu-Kommission nun triumphiert und prompt Einschnitte in die Sozialversicherung fordert. Reichensteuer nein, Sozialleistungen kürzen ja – das wird nun überall EU-Politik. Schröder sei dank!
Peter Nemschak
15. Januar 2014 @ 13:47
Wieviel Sozialstaat wollen wir haben? Soll das ein EU oder nationales Thema sein? Diese Frage ist nicht entschieden. Sie sollte transparent öffentlich diskutiert werden. Auch die Treffsicherheit von Sozialleistungen gehört überprüft. Das derzeitige System der Politik, dem Steuerzahler in die rechte Tasche zu greifen, um gleichzeitig Geld in die linke Tasche zu stecken, ist unbefriedigend.
Peter Nemschak
15. Januar 2014 @ 18:57
Was ich nicht verstehe, dass Hollande von Mitterand nichts gelernt hat, obwohl er sein Vorbild ist. Hätte er es, hätte er nicht 2 Jahre verloren. Was ist wohl der Grund dafür?
Johannes
15. Januar 2014 @ 12:02
Wie kann Martin Schulz antreten? Immer wieder muss ich mir als Deutscher von der EU und einzelnen Presseleuten anhören, es gebe in Brüssel eine übermächtige, deutsche Dominanz. Vorallem die SPD schreit ständig danach, warum stellen die dann einen Deutschen auf, das würde die deutsche Dominanz weiter festiegen. Die wiedersprechen sich selbst, was für Schwachmaten.
Peter Nemschak
15. Januar 2014 @ 09:23
Jeder Kandidat ist das Ergebnis eines Kompromisses. Je früher sie oder er feststeht, desto größer die Gefahr politisch abgeschossen zu werden. Mich würde interessieren, welche politischen, insbesondere nationalen Zugeständnisse bei der Kür des Kandidaten bzw. der Kandidatin die politischen Hände wechseln. Dass Merkel sich so lange, wie aus ihrer Sicht vorteilhaft, bedeckt hält, ist verhandlungstaktisch verständlich