Bruchstellen im Ampel-Deal, Flüchtlingskrise am Ärmelkanal – und Merkel rügt Putin

Die Watchlist EUropa vom 26. November 2021 –

Die Ampel schreibt EUropa groß. Im Koalitionsvertrag für die künftige deutsche Regierung taucht das Stichwort nicht weniger als 71mal auf, Europapolitik wird zum Querschnittsthema.

Das ist ein Fortschritt, wenn man es mit dem Wahlkampf vergleicht, wo EU-Themen tunlichst vermieden wurden. Fast könnte man meinen, Kanzler Scholz wolle den “Aufbruch für Europa” nachholen, den Noch-Kanzlerin Merkel verschlafen hat.

Doch vieles klingt mehr nach Wünsch-Dir-Was denn nach klarer Orientierung. Zudem zeichnen sich schon jetzt Spannungen mit EU-Kommissionschefin von der Leyen ab. Der Koalitionsdeal enthält gleich mehrere Bruchstellen.

So fordern die Ampel-Koalitionäre mehr Druck auf Polen und Ungarn. Man plane, „die bestehenden Rechtsstaatsinstrumente konsequenter und zeitnah zu nutzen und durchzusetzen“, heißt es.

Dies ist eine Aufforderung an von der Leyen, nicht länger zu zögern und den Rechtsstaats-Sündern endlich den Geldhahn zuzudrehen. Die deutsche EU-Chefin schiebt die Entscheidung seit Monaten vor sich her.

Zu Streit kann es auch beim Klimaschutz kommen. Die Ampel übernimmt zwar weitgehend das Aktionsprogramm „Fit for 55“, das von der Leyen im Sommer vorgestellt hatte.

Doch beim Abschied vom Verbrennermotor bleibt die neue Koalition vage. Brüssel fordert, dass 2035 Schluß sein soll – Berlin weicht einer Festlegung aus.

Keine neuen Eigenmittel

Für Zündstoff dürfte auch die Wirtschafts- und Finanzpolitik sorgen. Der neue Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) steht von der Leyen zwar näher als Grünen-Kochef Robert Habeck, der den Posten auch gerne gehabt hätte.

Doch im Koalitionsvertrag ist offen geblieben, wie die EU sich künftig finanzieren soll. Brüssel hofft auf neue Eigenmittel, also Steuern und Abgaben. Doch Berlin spart das Thema aus.

Wie die Milliarden-Schulden abgestottert werden sollen, die die EU für ihren Wiederaufbaufonds aufgenommen hat, bleibt im Unklaren.

Streit über den Stabilitätspakt

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Unter den Teppich gekehrt wurde auch der Streit um den Stabilitätspakt für den Euro. Die Ampel lobt seine „Flexibilität“ – dabei mußte er in der Coronakrise ausgesetzt werden, weil die veralteten Schuldenregeln nicht einmal mehr von Deutschland eingehalten wurden.

Frankreich hat den Pakt daher für obsolet erklärt; Paris will eine radikale Reform der Fiskalregeln. Doch die neue, „fortschrittliche“ Koalition weicht aus – wohl auch, weil man in Berlin selbst noch nicht recht weiß, wie man die ehrgeizigen Ziele etwa im Klimaschutz finanzieren will.

Am Ende könnte auch Deutschland mehr Schulden machen, als es der “deutsche” Stabilitätspakt erlaubt. Lindner ist um seinen Job nicht zu beneiden.

Ein föderales EUropa?

Doch es gibt auch Grund zu Hoffnung. Die Ampel will die EU in einen „föderalen Bundesstaat“ weiter entwickeln. Das fordert von der Leyen schon seit Jahren.

In der CDU wurde sie dafür belächelt; nicht einmal ihre Parteifreundin Angela Merkel wollte ihr folgen. Mit der neuen Regierung könnte nun frischer Wind in die seit Jahren festgefahrene Debatte über die Zukunft der Union kommen.

Ob Polen und Ungarn dabei auch mitziehen, steht allerdings auf einem anderen Blatt…

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P.S. Zu umstrittenen Fragen wie Nord Stream 2 und der Förderung der Atomkraft in der sog. EU-Taxonomie sagt der Koalitionsvertrag übrigens auch nichts. Denn das sind Bruchstellen nicht nur in der EU, sondern auch in der Ampel-Koalition – und man will nicht gleich zu Beginn Streit mit Frankreich…

Die Watchlist

Wie kann die Flüchtlingskrise in Frankreich gelöst werden? Immer mehr Migranten wagen die gefährliche Überfahrt nach England durch den Ärmelkanal, am Mittwoch gab es viele Todesopfer. Nun lädt Präsident Macron zu einem Krisentreffen am Sonntag nach Calais.  Man wolle “Mittel und Wege zur Stärkung der polizeilichen, gerichtlichen und humanitären Zusammenarbeit festlegen”, um “besser gegen die Schleusernetzwerke vorzugehen”. Am Freitag war auch ein mutmaßlicher Schleuser aus Deutschland festgenommen worden.

Was fehlt

Das Treffen zwischen Noch-Kanzlerin Merkel und dem polnischen Regierungschef Morawiecki in Berlin. Die Kanzlerin sagte ihrem Gast deutsche Solidarität in der Grenzkrise mit Belarus zu. Und sie rügte Kreml-Chef Putin, weil dieser ein Treffen im Normandie-Format zur Ukraine abgelehnt habe. In Moskau stellt man es allerdings genau andersherum dar: Berlin und Paris hätten einen russischen Entwurf für ein Normandie-Treffen zurückgewiesen und danach die Gespräche abgebrochen. Wie auch immer: Die Krise schwelt weiter, das Säbelrasseln wird immer lauter...