Brexit-Chaos: Plötzlich bröckelt die Einheit
So kann es gehen. Wochenlang haben EU-Ratspräsident Tusk und andere einflußreiche „Kreise“ für eine Vertagung beim Brexit geworben. Doch nun, da UK den EU-Austritt tatsächlich verschieben will, ist es auch nicht recht.
Das zeigen die sehr unterschiedlichen, um nicht zu sagen widersprüchlichen Reaktionen auf die letzte Wendung im britischen Brexit-Theater – pardon: im Unterhaus in London.
Am größten ist der Widerstand im Europaparlament. Dessen Brexit-Beauftragter Guy Verhofstadt, aber auch Jo Leinen von der SPD haben größte Bedenken gegen einen Aufschub.
Denn er würde den Europawahlkampf überschatten und möglicherweise sogar die Wahl gefährden. Man denke nur, wenn die Briten erneut Abgeordnete nach Straßburg schicken!
Not amused ist auch die EU-Kommission. Vorrang habe die Funktionsfähigkeit der EU-Institutionen, heißt es. Anders gesagt: Juncker & Co. sind gegen einen langen Aufschub, wie ihn Tusk suggeriert.
Denn dann dürften die Briten auch einen neuen EU-Kommissar stellen, und sie würden wohl sogar über den nächsten Kommissionschef mitentscheiden – auch wenn mancher dies ausschließen will.
Doch selbst im Rat, der bisher ein Muster an Geschlossenheit war (sieht man vom Powerplay Irlands und einzelnen Ausrutschern in Polen und Holland ab), grummelt es.
So hat sich Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn gegen eine Verlängerung ausgesprochen – es sei denn, sie sei gut begründet. Doch was könnte jetzt noch eine gute Begründung sein?
Im Gegensatz dazu zeigt sich Irlands Premier Leo Varadkar für alles offen. Je später der Brexit kommt, desto besser, scheint er zu denken. Was zählt schon die Europawahl im Vergleich zum Karfreitagsabkommen?
Die Einheit bröckelt – doch das dürfte erst der Anfang sein. Denn was passiert, wenn Premierministerin Theresa May den Austrittsvertrag zum dritten Mal zur Abstimmung stellt – und erneut scheitert?
Dann könnten die EU-Politiker wohl kaum erwarten, dass sich der Schaden durch eine Auszeit oder eine „Reflexionsphase“ beheben lässt. Sie müssten sich selbst bewegen, und ihren Deal ändern.
Es sei denn, sie setzten auf „No Brexit“ – nach dem Motto: Je länger der Austritt hinausgeschoben wird, desto besser. Am Ende könnten die Briten resigniert aufgeben und doch im EU-Club bleiben.
Genau das sei das wirkliche Ziel von Ratspräsident Tusk, behaupten böse Zungen in Brüssel. Doch was will die EU mit einer resignierten, tief zerstrittenen Nation in ihren Reihen, deren politische Klasse die Kontrolle verloren hat?
Siehe auch „Kontrollverlust in London – und in Brüssel“
Peter Nemschak
16. März 2019 @ 13:47
@Kleopatra Egal, wo sie Grenzkontrollen einziehen, es wird immer politisch Unzufriedene geben, die sich benachteiligt fühlen. Warten wir ab, ob nicht letzten Endes der Status Quo erhalten bleibt, weil der Wunsch nach Sicherheit den nach Veränderung überwiegt.
Kleopatra
16. März 2019 @ 09:09
Die EU sollte in der Tat niemanden zwingen, Mitglied zu sein. Aber ganze Länder als “politikunfähige Nationen” abzutun, halte ich auch für unangemessen. Deutschland ist zum Beispiel nicht weniger politikunfähig, wie man zum Beispiel an seiner Unfähigkeit sieht, auf die Migrationskrise anders als mit der heimlichen Unterstützung afrikanischer Kriegsverbrecher zu reagieren.
Nebenbei gesagt (zum Karfreitagsabkommen): Dieses Abkommen hat im Grund zur Voraussetzung, dass sowohl Irland als auch Großbritannien entweder in oder außerhalb der UE sind. Deshalb haben beide Länder mit der Ratifikation des Lissabonvertrags (der die Möglichkeit vorsieht, einseitig den Austritt aus der EU zu erklären) implizit die Lunte an das Karfreitagsabkommen gelegt.
Peter Nemschak
16. März 2019 @ 09:53
Niemand hindert die beiden Irland daran das Karfreitagsabkommen unter den Bedingungen des BREXIT neu auszuhandeln. Immerhin wurde das friedliche Miteinanderleben mittlerweile eingeübt.
Kleopatra
16. März 2019 @ 10:27
Sicher müssen sie nicht aufeinander schießen; nur ohne Grenzkontrollen geht es nicht mehr, denn die sind an einer EU-Außengrenze nun einmal nötig. Da allerdings Irland ohnehin nicht zum Schengenraum gehört, wäre es vielleicht das Einfachste, die ganzen Kontrollen zwischen Irland und die Festlands-EU zu legen?
Holly01
16. März 2019 @ 10:59
Das ist eine “Kulturgrenze”. Das ist vergleichbar mit dem rechts-rheinisch und links-rheinisch oder München als nördlichste Stadt von Italien oder der Übergang Ruhrgebiet zur münsterländer Börde.
Selbst wenn Irland sich dem UK anschliessen würde, wäre das eine Grenze zwischen zwei Lebensweisen.
Katalonien, Tirol, Albanien, Slaven, Walonen, Flandern wir haben zig Beispiele, aber das UK hat England und den Rest und dann nix und dahinter das Commonwealth.
Abgesehen von Bayern ist Deutschland da inzwischen relativ schmerzfrei.
Die Lernphase ging aber von etwa 1400 bis 1648 und war extrem blutig und teuer.
Neuverhandlungen des Karfreitagabkommens würden inhaltliche Fragen aufwerfen, die absolut niemand stellen oder hören will. Da ist der Brexit geradezu eine Kinder Geburtstagsfeier dagegen…..
Deshalb halten die 27 ja so schön zusammen.
Der Brexit bringt eben auch die Nationalstaaten auf die Tagesordnung.
Frage: Wozu brauchen wir Bundesländer?
Weil wir ein fragmentiertes Recht haben, zB die Bildungspolitik.
Warum haben wir Landkreise?
Richtig weil wir ein fragmentiertes Recht haben, das Landkreisen eine Funktion zuweist.
Brauchen wir das fragmentierte Recht? Nein.
Aber wer versorgt denn dann die lokalen Eliten? Wer ernährt denn dann die so genannten Lokalpolitiker?
Lokalpolitiker brauchen wir nämlich. Weil wir real existierende lokale Unterschiede haben.
Ja, dann knobeln Sie mal, wer da verhandeln soll beim Karfreitagsabkommen?
Es gäbe die klassische Lösung. Das Problem zum System erklären. Nordirland wird ein Sondergebiet, wie zB Hongkong als britische Sonderzone gegenüber China.
Die Dänen haben so etwas mit anderen Vorzeichen für die Färöer Inseln gemacht.
Dann ist Nordirland offiziell anders und hat Sonderregeln gegenüber dem UK und gegenüber Irland.
Da kann man alle schick mit Pöstchen versorgen und eine schicke Blase aufpusten.
So eine “all you can eat” Zone hätten sowohl die Iren, wie die Briten sowieso gerne.
Wenn die Kaufkraft in Nordirland dann um den Faktor X höher ist als im Umland, dann entwickelt sich da auch ein Lokalpatriotismus der eine Selbstständigkeit und damit solche Verträge wie das Karfreitagsabkommen möglich(er) macht.
vlg
Peter Nemschak
15. März 2019 @ 16:32
Ein Verbleib der Briten wäre durchaus im Interesse der EU, und das nicht nur aus finanziellen Gründen. Das UK wäre eine sinnvolle Balance des französischen Etatismus (egal welche französische Regierung gerade an der Macht ist), dem liberal denkende Regierungen in Europa wenig abgewinnen können.