Kein Schengen, kein Euro?
Mit ihrem “Wir schaffen das” wollte Kanzlerin Merkel klare Kante zeigen. Doch nun steht sie selbst unter Druck – und wird immer unverständlicher. Was soll zum Beispiel diese versteckte Drohung?
“Der Euro und die Freizügigkeit der Bewegung über Grenzen hinweg hängen unmittelbar zusammen”, sagte Merkel auf dem Empfang der rheinland-pfälzischen Wirtschaft in Mainz.
Niemand solle so tun, dass man eine gemeinsame Währung haben kann, “ohne dass man eine einigermaßen einfache Überquerung von Grenzen hat.”
Kein Schengen, kein Euro? Ist es das, was Merkel meint? Es wäre merkwürdig, denn Deutschland war das erste große EU-Land, das wieder Grenzkontrollen einführte.
Oder zielt sie auf Griechenland, wohl wissend, das diese eine neue Eurokrise provozieren könnte? Klar ist nur, dass die Kanzlerinnenworte große Nervosität verraten. – Mehr zur Flüchtlingskrise hier
Peter Nemschak
12. Januar 2016 @ 10:20
Eine gemeinsame Währung erfordert unter anderem einen freien Kapitalverkehr im gemeinsamen Währungsraum. Es besteht die durchaus berechtigte Befürchtung, dass aus der politischen Dynamik der Aufgabe des freien Personenverkehrs die Aufgabe des freien Kapitalverkehrs folgen könnte, was das Ende der gemeinsamen Währung bedeuten würde. Interessant in diesem Zusammenhang war die Reaktion der Tschechischen Nationalbank, die nach Ausbruch der Krise zum Schutz der nationalen Währung den Kapitalexport für die Banken eingeschränkt hat. Konkret war es den transnational in der EU agierenden Bankkonzernen nicht mehr gestattet, Überschussliquidität aus Tschechien herauszuziehen und konzernintern in anderen EU-Staaten einzusetzen. Mit anderen Worten: das betriebswirtschaftlich gelebte Konsolidierungsprinzip wurde durch nationalstaatliche Entscheidung transnational außer Kraft gesetzt. So gesehen ist die Sorge von Merkel und ihren finanzpolitischen Beratern berechtigt. Sie hat mit Griechenland nichts zu tun, sehr wohl aber mit der Einsicht, dass politische Kräfte, vor allem in Zeiten allgemeiner Verunsicherung, eine nicht mehr kontrollierbare Eigendynamik entwickeln können.
ebo
12. Januar 2016 @ 10:25
Griechenland ist vom Schengenraum ebenso abgeschnitten wie Irland. Trotzdem gibt es dort den Euro. Im Kosovo übrigens auch…
Peter Nemschak
12. Januar 2016 @ 11:03
Noch funktioniert der freie Kapitalverkehr. Er könnte aber der Renationalisierung zum Opfer fallen als Teil einer politischen Dynamik, die mit wirtschaftlicher Logik zwingend nichts zu tun hat, so zu sagen eine unbeabsichtigte Nebenwirkung von Grenzkontrollen, welche Symbol für nationalstaatlich souveränes Verhalten sind. Derzeit wütet nationalistisches Denken in vielen politischen Köpfen. Merkel gehört meines Erachtens nicht zu letzteren. Sie tut sich innenpolitisch zugegebenermaßen leichter als andere, die mit größeren wirtschaftlichen Herausforderungen als Deutschland zu kämpfen haben. Was Europa fehlt, ist eine gemeinsame Vorwärtsstrategie, der politische Wille dafür, nicht die ökonomischen Mitteln, wie die von der EU in Auftrag gegebene und unter der Führung des österreichischen WIFO gemeinsam mit 33 Schwesterinstituten erstellte lesenswerte Studie – konkrete Vorschläge zu einer europäischen Wachstumspolitik – zeigt. Ohne für alle Mitglieder verbindliche Strategie erscheint mir zum Beispiel die in der Studie empfohlene teilweise Vergemeinschaftung der Staatschulden als ein Mittel unter zahlreichen anderen politisch nicht durchsetzbar. Warum sollte ein Land wie Deutschland einer teilweisen Schuldenvergemeinschaftung zustimmen, wenn es weder eine gemeinsame Vorwärtsstrategie noch die Gewähr gibt, dass alle beteiligten Mitglieder ihre jeweils spezifischen und politisch schmerzhaften Hausaufgaben machen. Mangels gemeinsamer Strategie und Vertrauen in die politische Durchsetzungsfähigkeit des jeweils anderen verlagert sich die Auseinandersetzung auf die Zweckmäßigkeit der Mittel, die Höhe von Staatsdefiziten (Stichwort: Austerität). Ein europäischer Bundesstaat täte sich leichter als der jetzige Staatenbund eine wachstumsorientierte Strategie umzusetzen. Die innerstaatliche Konsensfindung ist bei allen Schwierigkeiten nun einmal leichter als eine auf supranationaler Ebene. Hier zeigen sich die strukturellen Governancegrenzen einer politischen Konstruktion wie die der EU. Alles auf Neoliberalismus und Merkel zurückführen zu wollen, greift zu kurz und hat wenig Erklärungswert.