Holodomor: Geschichtspolitik à la von der Leyen
EU-Kommissionschefin von der Leyen hat eine Parallele zwischen dem russischen Krieg in der Ukraine und dem Holodomor gezogen. Das ist gewagt, vor allem für eine deutsche Politikerin.
“90 years after the Holodomor, the Kremlin is again using food as a weapon”, schrieb von der Leyen auf Twitter. Mal abgesehen davon, dass diese These kontrafaktsich ist – Russland hat gerade einer Verlängerung des Getreide-Deals mit der Ukraine zugestimmt – offenbart sie eine merkwürdige Geschichtsauffassung.
Von der Leyens historische Parallele klingt nämlich so, als wolle sie Kremlchef Putin mit Stalin gleichsetzen – und en passant vergessen machen, welch entscheidende Rolle die Sowjetunion beim Sieg über Nazi-Deutschland spielte. 90 years after – und dazwischen war gar nichts?
Auch der Begriff Holodomor ist umstritten. Die Hungersnot vor 90 Jahren traf nämlich nicht nur die Ukraine, sondern auch weite Teile Russlands. Bis vor kurzem war diese Katastrophe kein Thema in Deutschland. Nun wird sie gegen den Kreml instrumentalisiert, auch von Berlin.
Mir macht diese Art von Geschichtspolitik große Bauchschmerzen. Sie reiht sich ein in den Versuch, die europäische Geschichte im Sinne der Nationalisten in der Ukraine neu zu schreiben. Wo bleibt die Aufarbeitung der ukrainischen Nazi-Verstrickung, wo die europäische Perspektive?
Gerade von einer deutschen EU-Politikerin hätte ich mehr historisches Bewußtsein erwartet…
Mehr zur Ukraine hier
KK
28. November 2022 @ 17:12
@ Thomas Damrau:
“Die Darstellung der “Russen” in den deutschen Medien geht vielfach in Richtung “unzivilisierte Barbaren”. Der Weg zum “slawischen Untermenschen” scheint mir nicht mehr weit zu sein.”
Und nicht nur durch die Medien, einige unserer Politiker – allen voran unsere Aussenministerin – hauen in die gleiche Kerbe. Eine Kerbe, die m.E. bei nicht wenigen dieser Darstellungen schon die Grenze zur strafbewehrten Volksverhetzung überschritten hat.
KK
28. November 2022 @ 14:28
@ european:
“Ich bin davon überzeugt, dass niemand hier im Forum Kriegsverbrechen entschuldigt oder einen Kriegsverbrecher in Schutz nimmt.”
Allerdings spielen die US-amerikanischen Kriegsverbrechen in der “wertebasierten” Politik von EU und Deutschland regelmässig keine Rolle!
Stattdessen wird zB Assange in einer beispiellosen Weise für die Aufdeckung derselben seit über 10 Jahren verfolgt und weggesperrt. Von den USA und dem UK mit anfänglicher Beihilfe Schwedens. Und ohne irgendeine ernstzunehmende Intervention der jetzt ja ach so “werteorientierten” Politiker. Letztendlich werden bestimmte Kriegsverbrecher durchaus auch in diesem Forum gelegentlich in Schutz genommen, indem deren Taten relativiert oder gar totgeschwiegen werden.
Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein – es ist davon auszugehen, dass auch Ukrainer Kriegsverbrechen in dem seit 2014 schwelenden Konflikt begangen haben.
Ich bin dafür, dass Kriegsverbrechen aufgeklärt und unabhängig (!) ermittelt werden. Aber das gilt ausnahmslos für alle Kriegsverbrechen, alle Täter und alle Regionen dieser Welt!
european
28. November 2022 @ 15:00
So sehe ich das auch.
Dietmar
28. November 2022 @ 13:33
Dass vdL die deutsche Geschichte vergessen machen wolle ist eine böse Unterstellung, der Hinweis, der Holodomor habe auch Russen getroffen, unnötige Wiederholung von Kreml-Propaganda, der Hinweis auf „Vereinbarungen“ mit Russland zum Getreideexport hält vermutlich auch keiner Überprüfung stand. Letztlich sind bei Ihnen stets die USA die Bösewichte, die den armen russischen Bären in die Enge treiben. Was für eine Verdrehung, was für eine Verblendung!
ebo
28. November 2022 @ 14:48
Zum Getreidedeal schreibt die Washington Post:
The grain deal did not restore Ukraine’s exports to prewar levels, but it did help Kyiv ship out more than double the food it was exporting before the agreement, according to a U.N. database. The deal has facilitated the shipment of more than 11 million tons of corn, wheat, sunflower oil and related products to 38 countries, the United Nations says.
Most of the exports have gone to Spain, Turkey, China and Italy. More-vulnerable countries such as Ethiopia, Kenya, Lebanon, Somalia and Yemen have received smaller amounts.
https://www.washingtonpost.com/world/2022/11/17/russia-ukraine-grain-deal-black-sea/
Vielleicht glauben sie der ja mehr?
Machiavelli
30. November 2022 @ 17:36
@ Dietmar: „…der Hinweis, der Holodomor habe auch Russen getroffen, (ist) unnötige Wiederholung von Kreml-Propaganda…“
Nein, das ist keine Kreml-Propaganda, sondern ein Fakt. Zur Propaganda wird der Holodomor durch das Schweigen über die Opfer, die nicht Ukrainer waren. Durch dieses Framing, wie es heute so schön heißt, kann die ukrainische Regierung die Ukrainer als alleinige Opfer hinstellen. Der Holodomor war eine Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der gesamten Sowjetunion, nicht nur in der Ukraine. Insgesamt sind 1932/33 zwischen acht und neun Millionen Menschen in der Sowjetunion verhungert, davon über 3,5 Millionen in der Ukraine, rund drei Millionen in Russland, mehr als 1,2 Millionen in Kasachstan.
Stef
28. November 2022 @ 11:53
Wir können hier jedenfalls festhalten, dass der EU-Führung kein Superlativ und kein historischer Vergleich weit genug geht, um die russische Seite des in der Ukraine laufenden Konflikts zu diskreditieren. Man mag von den Handlungen Russland halten, was man will. Mir geht es hier explizit um unsere europäische Seite. Es gibt bei uns schlicht keine analytischen und argumentativen Reserven und Rückzugsmöglichkeiten mehr, wenn auf alles so scharf geschossen wird. Es bleibt nur die Fortsetzung des Waffenganges bis zum bitteren Ende, weil Diplomatie auf Zwischentöne und gewichtswahrende Kompromisse angewiesen ist. Solche kann es aber bei Völkermord und Holodomor nicht geben.
Um mein Argument noch einmal deutlich zu machen: Selbst wenn durch Russland in der Ukraine ein Genozid begangen wird und der Vergleich mit dem Holodomor angemessen wäre (was in beiden Fällen mit guten Argumenten bezweifelt werden kann), muss besser abgewogen werden, ob man deshalb die Tür für Verhandlungen so systematisch verriegelt, wie es VonDerLeyen es wiederholt macht. Denn ohne Verhandlungslösung wird es notwendigerweise immer mehr (echte oder vermeintliche) superlative Verbrechen geben.
Die Frage, an der die Politik sich mit Gewalt vorbeimogelt, die aber vollkommen unverzichtbar ist: Was wollen wir eigentlich? Recht haben und mit Recht untergehen? Oder Probleme lösen auch mit Partnern, die uns nicht in jeder Hinsicht gefallen. Ich behaupte, nur mit Letzterem ist z.B. die Bekämpfung des Klimawandels überhaupt möglich. Ersteres erfreut nur die Rüstungsindustrie.
fjesse
28. November 2022 @ 11:05
@”Dazu gibt es einen ausführlichen Artikel aus Cambridge und diese Grafik:”. Es gibt auch auf Deutsch verlässliche Darstellungen.
Gerhard Simon ist Historiker und ehemaliger Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und lehrte an der Universität zu Köln. https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/174179/analyse-80-jahre-holodomor-die-grosse-hungersnot-in-der-ukraine/
ebo
28. November 2022 @ 11:35
Dieser Kommentar wurde gekürzt. Bitte beziehen Sie sich auf den Blogpost und nicht auf diesen oder jenen Historiker. Wir wollen hier keinen Historikerstreit aufmachen, sondern über die EU-Politik diskutieren.
Thomas Damrau
28. November 2022 @ 10:12
@Kleopatra
Folglich?
Es behauptet niemand, dass Putin und schon gar nicht Stalin ein Ehrenplatz in den Geschichtsbüchern gebührt.
Ihre geschichtlichen Einschätzungen kann man diskutieren. Sie sind aber schon ziemlich weit weg von der ursprünglichen Fragestellung:
1) Ist es zulässig, aus propagandistischen Gründen immer nur die geschichtlichen Ereignisse hervorzuheben, die einem ins Narrativ passen? In Diktaturen ist das üblich – in demokratischen Gesellschaften sollten wir das lassen.
2) Bringen die Gleichsetzungen “Putin=Hitler” und “Putin=Stalin” (“Putin=Mao” ist vermutlich schon in Arbeit, “Putin=Pol Pot” steht auf der Short-List) wirklich Erkenntnis? Oder soll die Entmenschlichung des Gegners weiter vorangetrieben werden?
Was meinen Sie?
Die Darstellung der “Russen” in den deutschen Medien geht vielfach in Richtung “unzivilisierte Barbaren”. Der Weg zum “slawischen Untermenschen” scheint mir nicht mehr weit zu sein.
Zum Thema Entmenschlichung: Ich habe die ersten Seiten des Kriegstagebuchs “Himmel über Charkiw” des ukrainischen Schriftstellers Sehrhij Zhadan gelesen ( https://webreader.mytolino.com/reader/index.html#/epub?epuburl=https%3A%2F%2Fapi.pageplace.de%2Fpreview%2FDT0400.9783518775233_A43953662%2Fpreview-9783518775233_A43953662.epub&purchaseurl=https%3A%2F%2Fwww.weltbild.de%2Fwarenkorb%2Fhinzufuegen%2F144553307&backref=https%3A%2F%2Fwww.weltbild.de%2Fartikel%2Febook%2Fhimmel-ueber-charkiw_38536470-1&publication_id=DT0400.9783518775233_A43953662 ).
Bei allem Verständnis für die Wut der Ukrainer auf die Russen: In normalen Zeiten würde kein Lektor einen solch rassistischen Text durchwinken. Das Buch ist bei Suhrkamp erschienen und dieses Jahr hat Zhadan den FRIEDENSPREIS des deutschen Buchhandels bekommen.
Christian Müller
28. November 2022 @ 09:27
Die deutsche Politik nähert sich mehr und mehr einem verachtenswerten Revanchismus. Zum Holodomor siehe auch https://globalbridge.ch/der-holodomor-war-eine-katastrophale-hungersnot-aber-kein-genozid/
ebo
28. November 2022 @ 09:32
Ja, wer von Holodomor redet, will oft auf die Genozid-These hinaus. Noch ist VDL nicht ganz so weit gegangen…
fjesse
27. November 2022 @ 21:38
@ebo “Auch der Begriff Holodomor ist umstritten. Die Hungersnot vor 90 Jahren traf nämlich nicht nur die Ukraine, sondern auch weite Teile Russlands.” So formuliert klingt es revisionistisch. Es geht ja nicht um den Begriff, sondern um das Ereignis.
Hier eine Darstellung von 2013, aber man kann die dort dargestellten Ereignisse und Fakten auch schon bei Courtois/ Werth u.a, Das Schwarzbuch des Kommunismus, 1998, oder bei Werth, Histoire de l’Union soviétique, 1990, als es den Begriff Holodomor in der öffentlichen Debatte noch nicht gab. Das ist sucher auch in deutschen fachhistorischen Darstellungen nicht anders. Es gab damals auch noch keinen Anlass, als Historiker im Westen eine speziell ukrainische Perspektive einzunehmen.
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/174179/analyse-80-jahre-holodomor-die-grosse-hungersnot-in-der-ukraine/
Davon abgesehen, war es zu erwarten, dass dieses Ereignis irgendwann von Politikern missbraucht wird. Da bin ich mit ebo einer Meinung. Allerdings habe ich keinen Anlass, Putin vor dem Vorwurf Kriegsverbrechen zu veranlassen in Schutz zu nehmen. Das hat er ja schon in Tschetchenien gezeigt.
european
28. November 2022 @ 07:42
Ich bin davon überzeugt, dass niemand hier im Forum Kriegsverbrechen entschuldigt oder einen Kriegsverbrecher in Schutz nimmt.
ebo
28. November 2022 @ 08:04
So ist es.
fjesse
28. November 2022 @ 10:46
Was mich an ebos Formulierung stört ist die relativistische Formulierung, die eher verwischt und unterstellt, als zur Aufklärung beiträgt. Und solche missverständlichen Formulierungen gibt es bei Ihnen leider des Öfteren, wenn sie zum Beispiel unvermittelt vom “neuen Feindbild gegen Putin” (25.11.2022) im Kontext der Uneinigkeit innerhalb der EU schreiben: Ein Begriff wie Feindbild ist eben mit “ungerechtfertigt”, “ideologisch” usw. konnotiert. Feindbilder werden produziert, z.B. im Rahmen von Propaganda. Im Falle Putins ist es leider er selbst, der das Bild von ihm als Kriegsverbrecher produziert, dazu braucht es keine Propaganda.
Wie soll man es verstehen, wenn ständig dem “Westen” (als “Wertewesten” denunziert) vorgeworfen wird, nicht verhandlungsbereit zu sein. Wo kann man hier auf diesem Blog lesen, wie, in welcher Form, mit welchen Angeboten sich die Friedens- oder Waffenstillstandsbereitschaft Putins äußert ?
Dann ebo in einer uneindeutigen Formulierung (21.11.2022) : “Die Ukraine will übrigens wieder Mitglied der Nato werden, Selenskyj hat es in Madrid bekräftigt. Und wieder höre ich keinen Widerspruch – dabei wiederholt er damit genau die Forderung, die zum Krieg führte…” – Putin am 7.7.2022: “Der sogenannte kollektive Westen unter der Führung der USA betreibt seit Jahrzehnten eine äußerst aggressive Politik gegenüber Russland. […] Die Warnungen, dass eine Erweiterung der NATO, insbesondere um ehemalige Sowjetrepubliken, inakzeptabel ist, wurden ignoriert. […] Heute wirft man uns vor, wir hätten einen Krieg im Donbass, in der Ukraine begonnen. Falsch, es ist der kollektive Westen, der diesen entfesselt hat, indem er im Jahr 2014 einen verfassungswidrigen bewaffneten Umsturz in der Ukraine organisiert und unterstützt hat und anschließend den Genozid an den Menschen im Donbass befeuert und gerechtfertigt hat. Der kollektive Westen ist der unmittelbare Täter, er trägt die Schuld an dem, was heute geschieht.” (Zitiert nach “Osteuropa” :https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2022/4-5/die-herrschenden-klassen-der-westlichen-laender-sind-ihrem-wesen-nach-uebernational-und-globalistisch/)
Dazu kommt, wenn hier in manchen Zuschriften zu lesen war, dass “die Ukraine gar kein richtiger Staat” sei, dass die Realität der russischen Verbrechen z.B. in Butscha oder in Cherson in Zweifel gezogen wird (leider ermöglicht die Suchfunktion es nicht, die älteren Blogger-Kommentare wiederzufinden).
Sicher macht es nicht viel Sinn auf platte und undifferenzierte Weise, Putin mit Stalin, Hitler, Pol Pot oder wem auch immer gleichzusetzen. Dass es Kontinuitäten im Bewusstsein russischer Diktatoren gibt, ist aber eine andere Frage. Die historischen Analyse der gezielt von der politischen Führung verschlimmerten Hungersnot Anfang der 1930er Jahre in der UdSSR zeigt eben auf, dass sie nicht nur in radikalbolschewistischen Motiven begründet ist, sondern auch in ethnischen, wenn nicht rassistischen. Dies ist in Bezug auf die Ukraine herausgearbeitet worden, in der es mit Abstand die größte Opferzahl gab, aber auch in Bezug auf das ebenfalls stark betroffene Kasachstan, wo dessen nomadische Bevölkerung systematisch vernichtet wurde.
Rassistische Motive benutzt auch Putin, sowohl das in der russischen Gesellschaft verbreitete Vorurteil gegen die “Kaukasus-Völker” als eben auch, in etwas verwickelter Weise gegen das “Brudervolk” der Ukrainer, dessen Sprache aber als minderwertiges bäuerliches Kleinrussisch denunziert wird. Es ist wohl so, dass Putin auf einen schnellen Sieg gesetzt hat, der es ihm erlaubt hätte, die Ukraine und deren Bevölkerung einzuheimsen und in Gänze als “russisch” zu deklarieren. Das hat nicht geklappt, jetzt fährt er eben eine Vernichtungsstrategie.
Und man kann durchaus auch methodische Ähnlichkeiten zwischen dem Handeln der Nazis im Sudetenland, und dem Russlands in Bezug auf Ossetien oder eben jetzt auf den Donbass erkennen.
ebo
28. November 2022 @ 11:21
Wir bloggen hier über die EU und ihre Politik, deshalb steht Putin nicht im Fokus. Wenn Sie Hinweise auf mögliche Verhandlungsbereitschaft suchen, werden Sie leicht fündig, etwa hier im ZDF:
Putin: USA sollen Kiew zu Gesprächen drängen
Bei einem Auftritt in Moskau sprach Wladimir Putin über den Krieg in der Ukraine. Die Ukraine käme nicht am Verhandlungstisch vorbei, die USA müssten dazu drängen, so Putin.
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/putin-rede-verhandlungen-ukraine-krieg-russland-100.html
Im Übrigen hat Putin gerade erst einer Verlängerung des Getreideabkommens zugestimmt – nach Verhandlungen.
Das Problem ist, dass die EU sich an den Gesprächen nicht beteiligt und dies auch nicht beabsichtigt. Andernfalls könnte man Putin ja “testen” – es wäre höchste Zeit!
Kleopatra
28. November 2022 @ 11:48
Wenn Putin wirklich an einem Frieden mit der Ukraine interessiert wäre, brauchte er bloß seiner Armee den Rückzug aus allen besetzten ukrainischen Territorien zu befehlen. Allerdings geht es ihm bei seiner Forderung nach „Verhandlungen“ nicht darum, sondern er will von den „Westmächten“ eine Anerkennung seines Anspruchs auf einen riesigen Einflussbereich (der idealerweise ganz Eurasien umfassen soll – von Lissabon bis Wladiwostok). Die EU kann weder einer Demilitarisierung eigener Mitglieder zustimmen, noch anerkennen, dass ein mit ihr assoziierter Staat zur Einflusssphäre einer anderen Macht gehört.
Nebenbei war schon der Umstand, dass die russische Armee (von Putin offen eingestanden) bei der Okkupation der Krym im Jahr 2014 keine Abzeichen getragen hat, ein eklatanter Verstoß gegen die Landkriegsordnung.
european
28. November 2022 @ 16:03
@fjesse
“Ein Begriff wie Feindbild ist eben mit “ungerechtfertigt”, “ideologisch” usw. konnotiert. Feindbilder werden produziert, z.B. im Rahmen von Propaganda.”
Das stimmt durchaus. Aber Propaganda koennen in diesem Fall alle Seiten, was es m.E. besonders schwer macht, die Lage in ihrer Gaenze zu beurteilen. Wenn Sie daran interessiert sind, befassen Sie sich einmal mit Edward Bernays Meinungsmanagement.
Ich bin davon ueberzeugt, dass auch der Westen nur das hoert, liest und mitbekommt, was er mitbekommen soll.
Zum Rest Ihres postings halte ich mich zurueck, denn der Ukraine-Konflikt geht deutlich weiter zurueck als 2014 und wurzelt in Brzezinski’s “The Grand Chessboard” oder auch “Die einzige Supermacht” aus 1997. Gerade in diesem Fall muss man wirklich den ganzen Kontext und vor allem die Interessenlagen sehen.
Kleopatra
27. November 2022 @ 21:32
Stalin hat bei dem Beginn des II. WK eine bedeutende Rolle gespielt; ohne seine Duldung bis Mitwirkung hätte Hitler wohl Polen im September 1939 nicht angegriffen, und als der Krieg schon halb geschlagen war, hat seine Armee noch opportunistisch im Windschatten der deutschen Wehrmacht die polnischen Ostgebiete besetzt. Es war doch Hitler selbst, der aus Stalin einen „Antifaschisten““ gemacht hat. Vor dem deutschen Angriff durfte man m.W. in der Sowjetunion nicht einmal die deutschen Nazis zu heftig kritisieren. Also, Stalin hat die Nazis besiegt, aber nur, weil sie nicht damit zufrieden waren, mit ihm zusammen Osteuropa aufzuteilen. Deshalb kann die Sowjetunion keinen Anspruch auf eine Heldenrolle beim Sieg über den NS beanspruchen. Sie wurde übrigens während ihres Krieges gegen Deutschland massivst von den USA materiell unterstützt.
fjesse
27. November 2022 @ 21:15
@ebo „Auch der Begriff Holodomor ist umstritten. Die Hungersnot vor 90 Jahren traf nämlich nicht nur die Ukraine, sondern auch weite Teile Russlands.“ So formuliert klingt es revisionistisch. Es geht ja nicht um den Begriff, sondern um das Ereignis.
Hier eine Darstellung von 2013, aber man kann die dort dargestellten Ereignisse und Fakten auch schon bei Courtois/ Werth u.a, Das Schwarzbuch des Kommunismus, 1998, oder bei Werth, Histoire de l’Union soviétique, 1990, als es den Begriff Holodomor in der öffentlichen Debatte noch nicht gab. Das ist sucher auch in deutschen fachhistorischen Darstellungen nicht anders. Es gab damals auch noch keinen Anlass, als Historiker im Westen eine speziell ukrainische Perspektive einzunehmen.https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/174179/analyse-80-jahre-holodomor-die-grosse-hungersnot-in-der-ukraine/
Davon abgesehen, war es zu erwarten, dass dieses Ereignis irgendwann von Politikern missbraucht wird. Da bin ich mit ebo einer Meinung. Allerdings habe ich keinen Anlass, Putin vor dem Vorwurf Kriegsverbrechen zu veranlassen in Schutz zu nehmen. Das hat er ja schon in Tschetchenien gezeigt.
european
27. November 2022 @ 19:16
Solche Vergleiche haben mittlerweile Tradition. Hier ist es Stalin, ansonsten ist es Hitler.
Der erste „Hitler“, den die USA entdeckt haben, war Mossadegh, der 1953 durch die USA und Großbritannien gestürzt wurde. Sein Fehler war, dass er die Ölfelder verstaatlichen wollte.
Ihm sollten viele „Hitlers“ folgen, nicht zuletzt, um die Angriffskriege seitens des Westens zuhause zu rechtfertigen. Bei jedem neuen „Hitler“ stellte sich später heraus, dass sie sich aus den Klauen des Westens befreien wollten, sei es der Ausstieg aus dem Petrodollarsystem (Gaddafi) oder Öl-Pipelines (Assad) und „Hitler“ Saddam Hussein war lange Zeit best buddy der USA, bis er in Ungnade fiel. Gleiches gilt für Mubarak. Auch ein „Hitler“ der weg musste. Mursi ist zwar keinen Deut besser, aber er ist dem Westen zugeneigt. Das schützt ihn (noch)
Um nicht missverstanden zu werden. Diktatoren sind keine friedlichen Naturgesellen, doch in allen Ländern, in denen der Westen diese Regimechange-Kriege geführt hat, wurde hinterher alles schlimmer. ISIS und Al Qaida sind Ergebnisse genau dieser Geopolitik und mit der Verbrüderung eigentlich verfeindeter Stämme hat auch in Afghanistan niemand gerechnet. Die sind zwar jetzt wieder verfeindet, aber gegen einen gemeinsamen Feind kann man sich schon mal zusammentun.
Mit „nie wieder Auschwitz“ waren auch die Grünen und auch die Deutschen im völkerrechtswidrigen Kosovo-Krieg mit dabei und auch hier wurden die angeblichen Beweise für Konzentrationslager und die Operation Hufeisen nie gefunden. Auch die angeblich alleinige Schuld Serbiens an diesem Krieg musste im Nachhinein neu
sortiert werden.
https://youtu.be/ZtkQYRlXMNU
Wer die Doku „Es begann mit einer Lüge“ gesehen hat, in der auch NATO-Vertreter zu Wort kommen, der wird begreifen, dass diese Vergleiche einzig und allein dazu dienen, um die Bevölkerung entsprechend auf die Notwendigkeit eines Krieges einzunorden. Das versucht die EUCO-Präsidentin mit diesem unzulässigen Vergleich. Außerdem steht sie aktuell nicht so erfolgreich da und will doch auch 2024 wieder in diesen Stuhl gewuppt werden.
Wir (die Deutschen) haben im 2. Weltkrieg allein 27 Millionen Russen umgebracht. Da sind wir noch nicht bei der Judenvernichtung angekommen und haben auch noch nicht die ganzen anderen Verbrechen angesprochen, die die Nazis innerhalb und außerhalb der Konzentrationslager verübt haben.
Nichts ist aktuell damit vergleichbar. Diese Abnutzung der Naziverbrechen durch unsinnige und unhaltbare Vergleiche sollten gerade wir Deutschen verhindern.
Kleopatra
28. November 2022 @ 08:50
Die Sowjetunion hat im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Menschen verloren. Die Bevölkerung der SU bestand zu grob maximal der Hälfte aus Russen. Daraus ergibt sich eine erste grobe Schätzung, dass die 27 Millionen keinesfalls “die Russen” betroffen haben, sondern dass die Hälfte wohl keine Russen waren. Da der Krieg vor alle in der Ukraine und Weißrussland stattfand, waren diese Regionen im Zweifelsfall besonders stark betroffen. In den 27 Millionen sind im Zweifelsfall die ermordeten Juden dieser Regionen mit einberechnet.
ebo
28. November 2022 @ 09:25
Dazu gibt es einen ausführlichen Artikel aus Cambridge und diese Grafik:
Kleopatra
28. November 2022 @ 11:55
Vielen Dank, sehr interessant; die Conclusio des Artikels ist nebenbei, dass in manchen Regionen ein Zusammenhang mit besonders schlimmen Repressionen festzustellen sein, wofür Nationalitätenfragen möglicherweise eine Schlüsselrolle spielen (also das, was hier von vielen gerne bestritten wird). (Die Autoren sind übrigens nicht in Cambridge tätig, dort sitzt lediglich der Verlag, bei dem die Zeitschrift “Nationalities Papers” erscheint).
KK
27. November 2022 @ 17:48
“Mir macht diese Art von Geschichtspolitik große Bauchschmerzen.”
Genau das ist das Problem: GeschichtsPOLITIK.
Ich selbst hatte auf der Uni als Gasthörer mal ein paar Semester GeschichtsWISSENSCHAFT gehört. An den Versalien erkennt man den Unterschied!
Und über von der Leyen und ihre seltsame Auffassung von politischer Verantwortung muss doch nach all den Skandalen und Löschorgien nun wirklich keiner mehr erstaunt sein. Die Frau ist nun wirklich nicht wegen ihrer Eignung und Befähigung auf ihre ganzen Posten gekommen – und trotz hartnäckigster Verfehlungen nie auch nur von einem vorzeitig wieder entfernt worden.
ebo
27. November 2022 @ 17:56
Man könnte auch GeschichtsKLITTERUNG sagen. Aber es geht nunmal um POLITIK 🙂