Spitzenkandidaten vor dem Aus?
Ein Jahr vor der Europawahl ist immer noch unklar, ob es transnationale Listen oder Spitzenkandidaten geben wird. Die EU-Staaten sind sich nicht einig, sogar die Größe des nächsten Parlaments ist strittig.
Das Europaparlament fordert eine Reform des Wahlprozesses, um die Lehren aus dem Debakel von 2019 zu ziehen. Damals hatten die meisten Parteienfamilien erneut Spitzenkandidaten aufgestellt.
Doch im Gegensatz zu 2014 scheiterte der Prozess. Der Spitzenkandidat mit dem besten Wahlergebnis, M. Weber von der konservativen EVP, konnte weder im Europaparlament noch im Rat eine Mehrheit auf sich vereinen.
Nach viel Hin und her wurde schließlich U. von der Leyen zur Kommissionspräsidentin ernannt, obwohl sie sich gar nicht zur Wahl gestellt hatte. Seitdem ist der “Spitzenkandidaten-Prozess” klinisch tot.
Der schwedische EU-Vorsitz hat nun die 27 Mitgliedsländer befragt, wie es 2024 laufen soll. Und siehe da: Die meisten sind gegen Spitzenkandidaten oder transnationale Listen.
Nur Deutschland und Frankreich waren für die nötigen Reformen. Das französische “Oui” ist allerdings mit Vorsicht zu genießen – denn 2019 stemmte sich Paris gegen Weber und boxte von der Leyen durch.
Keinen Konsens gibt es auch über die Größe des künftigen Parlaments. Die Abgeordneten fordern elf zusätzliche Sitze, um ihre Kammer repräsentativer zu machen. Doch auch dagegen sperren sich die EU-Staaten…
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Kleopatra
29. Juni 2023 @ 10:32
In Artikel 223 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU ist bestimmt, dass für die Vorschriften über die Europawahl ein einstimmiger Beschluss des Rates erforderlich ist, der von allen Mitgliedstaaten jeweils nach ihren verfassungsrechtlichen Bestimmungen angenommen werden muss und auch die Zustimmung der Mehrheit des EP benötigt. Insofern ist sehr wohl klar, dass es bis 2024 keine grundlegenden Änderungen geben wird, und selbst bestimmten Änderungen des Direktwahlaktes 2018 hat der deutsche Bundestag erst am 1.6.2023 zugestimmt (d.h. 5 Jahre nach dem entsprechenden Ratsbeschluss). Die weitreichenden Vorstellungen des Europäischen Parlaments sind daher bis auf Weiteres Kuriositäten ohne praktische Bedeutung.
Dass viele Mitgliedstaaten von Spitzenkandidaten oder transnationalen Listen nicht begeistert sind, sollte niemanden wundern. Nach Lage der Dinge wären diese geeignet, die Macht weniger großer Mitgliedstaaten zu stärken, und es ist sicher kein Zufall, dass diese Ideen wie geschildert vor allem in Deutschland und Frankreich populär sind – transnationale Wahlkämpfe bergen das Risiko einer Konzentration auf große Sprachgemeinschaften in sich. Der bisher einzige erfolgreiche “Spitzenkandidat” Juncker dürfte seinen Erfolg seiner Kenntnis des Deutschen und Französischen verdanken; schon Manfred Weber dürfte vor allem an seinen fehlenden Französischkenntnissen gescheitert sein.
Thomas Damrau
29. Juni 2023 @ 07:13
In einer richtigen repräsentativen Demokratie
– wird erst gewählt
– dann wird sondiert, in welchen Parteikonstellationen eine Regierung eine parlamentarische Mehrheit hätte
– dann wird ein Koalitionsvertrag vereinbart
– dann wird eine Regierung samt Chef(in) ins Amt gehievt – dabei stellt die stärkste Regierungspartei meistens (aber nicht zwangsläufig) die Chef(in)
Alternativ kann der Regierungschef auch direkt vom Volk gewählt werden, um dann eine Regierung zusammenzustellen, die hoffentlich vom gewählten Parlament toleriert wird.
Nur wenn einer der beiden gerade skizzierten Wege zur Regierungsbildung führt, sind SpitzenkandidatInnen sinnvoll. Wenn wie in der EU gewählt wird und danach ein externes Gremium (die Regierungschefs der Mitgliedsländer) hinter verschlossenen Türen das Kabinett zusammenstellt, sind SpitzenkandidatInnen WählerInnenveralberung.
KK
29. Juni 2023 @ 01:51
„Nach viel Hin und her wurde schließlich U. von der Leyen zur Kommissionspräsidentin ernannt,…“
Ich würde es anders formulieren: Der bislang mit Abstand dickste Nagel in den Sarg der EU eingeschlagen!