Sie wollen sie nicht ziehen lassen
Reisende soll man nicht aufhalten, sagt der Volksmund. Doch beim Brexit versuchen Kommissionschef Juncker und Ratspräsident Tusk genau das: Sie wollen den Austritt aus der EU doch noch abwenden.
Ohne einen Kurswechsel werde der Brexit „mit allen negativen Konsequenzen“ im März 2019 Realität, sagte Tusk. Falls die Briten ihre Meinung aber änderten, seien „unsere Herzen weiter offen“ für sie.
Juncker pflichtete bei. Auch er wünscht sich einen „Exit vom Brexit“. Doch warum eigentlich? Die EU hat Premierministerin May doch schon alle ihre Bedingungen diktiert, sie hat nichts mehr zu fürchten.
Oder dämmert Tusk und Juncker nun, dass die Konditionen zu hart waren – und das „No Deal“-Szenario wahrscheinlicher wird? Spekulieren sie auf ein zweites Referendum, wie Ex-UKIP-Chef Farage?
Wie dem auch sei, eine Rückkehr in den Club der 27 wäre derzeit kaum zu wünschen. Mit May ist er nicht denkbar, mit Labour-Führer Corbyn würde es wohl noch mehr Ärger geben, UK wäre gespalten.
Ein Vorteil für die EU wäre von einer Rückkehr aktuell auch nicht zu erwarten. Will sie die Verteidigungsunion etwa wieder rückgängig machen, will sie den Briten-Rabatt plötzlich wieder verlängern?
Was wollen Juncker und Tusk mit einem Land, das zuletzt jeden Integrations-Schritt verhindert, sich der Flüchtlingspolitik total verweigert und das EU-Budget zusammengestrichen hat?
Sinnvoll wäre eine Umkehr nur dann, wenn die Briten sie wirklich wollen – und wenn sie mit einer anderen britischen Europapolitik verbunden wäre: engagierter, offener, sozialer.
Gleichzeitig müsste die EU die Ursachen beseitigen, die zum Brexit geführt haben – unbegrenzte Zuwanderung, permanente Austerität, chronisches Demokratiedefizit, um nur einige zu nennen.
Beides zeichnet sich derzeit nicht ab, oder?
Siehe auch „Barnier versteht den Brexit nicht“
Peter Nemschak
18. Januar 2018 @ 08:43
@Kleopatra Sie haben recht….außer es wäre in den EU-Verträgen anderes vereinbart worden. Ob das Wiener Übereinkommen zwingendes Recht ist, weiß ich nicht.
Manfred Waltermann
17. Januar 2018 @ 15:40
So oder so
Man kann über den Zustand der EU und den drohenden oder auch nicht drohenden Brexit noch so lange Abhandlungen schreiben, es bleibt leider Fakt, dass dieses EU-Konstrukt längst gescheitert ist. Die Zustimmung der vielen – immer noch national ausgerichteten – Bürger in den Mitgliedsstaaten sinkt mit jedem weiteren Tag.
Die Menschen sind es einfach satt, mit den politischen Unausgegorenheiten und Zwistigkeiten von sich für wichtig haltenden Repräsentanten auf der EU-Plattform Tag für Tag belästigt zu werden.
Peter Nemschak
17. Januar 2018 @ 16:17
Meinen Sie etwa, dass Ihnen die heimischen politischen Zwistigkeiten bereits zum Hals heraushängen und Sie damit genug haben? Politik ist strukturell Konflikt, weil verschiedene Ansichten aufeinander prallen und auf einen Konsens gebracht werden müssen. Manchmal gibt es keinen Konsens. Auch das gehört dazu. Sie können von der EU keine Wunder erwarten, die es nicht einmal national gibt.
Manfred Waltermann
17. Januar 2018 @ 17:21
@Nemschak
ich gehe in meiner Einschätzung nicht von meinem Verständnis aus.
Aber die große Mehrheit der Bürger – zu denen wir beide wohl nicht zählen – beurteilt die EU weniger intensiv und deshalb oberflächlicher.
Streit – egal wo – ist noch nie attraktiv gewesen, auch wenn er manchmal sinnvoll und sogar notwendig ist.
Kleopatra
17. Januar 2018 @ 06:53
Zunächst: Bei zwischenstaatlichen Abkommen bedeutet eine Kündigung (und letztlich läuft die „Austrittserklärung auf eine solche hinaus) nicht dasselbe wie bei normalen bürgerlich-rechtlichen Verträgen; bei letzteren kann eine Kündigung nicht einseitig von dem Kündigenden zurückgenommen werden, bei zwischenstaatlichen Verträgen schon. Was Tusk und Juncker gesagt haben, bedeutet also nur, dass sie davon ausgehen, dass diese Möglichkeit der Rücknahme der Kündigung auch für den Austritt aus der EU gilt. Aber das würde dann natürlich mit allen Konsequenzen gelten, d.h. mit allen Zusatzbedingungen für die britische EU-Mitgliedschaft, die gegenwärtig vereinbart sind; d.h. weder die EU noch wohlmeindende Interessenvertreter könnten GB irgendwelche Vorschriften dafür machen.
Außerdem ist davon auszugehen, dass Juncker und Tusk genügend vernetzt und informiert sind, um zu wissen, dass es viele Interessen gibt, für die ein britischer EU-Austritt sehr nachteilig wäre. Dass fängt mit der Gefahr an, dass der Rest sich über den nächsten Haushaltsplan hoffnungslos zerstreitet, und ist mit dem Problem, dass die irisch-britische Grenze auf der Insel Irland EU-Außengrenze wird und deshalb die EU von ihrem Mitglied Irland wird verlangen müssen, dass es sie kontrolliert und gegen illegale Einwanderung und ungenehmigte Einfuhren schützt, noch nicht zu Ende. Also ist nicht die Frage, was Juncker und Tusk wollen, sondern was hinter den Kulissen gesagt wurde. Ich finde es respektabel, dass die beiden nicht in den gedankenlosen Chor derjenigen einstimmen, die sich öffentlich freuen, dass „wir sie endlich los sind“.
Peter Nemschak
17. Januar 2018 @ 11:30
Sind Sie sicher, das gemäß den EU-Verträgen eine Kündigung der Mitgliedschaft einseitig widerrufen werden kann oder gilt was liegt das pickt?
Kleopatra
17. Januar 2018 @ 16:13
Da die EU-Verträge zwischenstaatliche Verträge sind, sollte das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge auf sie anwendbar sein.
Das WÜK bestimmt in Artikel 67, Absatz 2: „Eine Handlung, durch die … der Rücktritt vom Vertrag erklärt … wird, ist durch eine den anderen Vertragsparteien zu übermittelnde Urkunde vorzunehmen.“ Und Artikel 68 bestimmt: „Eine Notifikation oder eine Urkunde nach den Artikeln 65 und 67 kann jederzeit zurückgenommen werden, bevor sie wirksam wird.“
Die Austrittserklärung läuft auf einen Rücktritt von den EU-Verträgen hinaus. Und wirksam wird sie Ende März 2019 (wenn nicht vorher etwas anderes vereinbart wird). Nach Artikel 68 müsste also bis zu diesem Zeitpunkt eine Rücknahme der Austrittserklärung zulässig sein; und die WÜK macht die Zustimmung der anderen Vertragsparteien nicht zur Bedingung.
Peter Nemschak
16. Januar 2018 @ 19:54
Sollte das UK ausscheiden, bleibt Frankreich als einzige Atommacht mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat. Damit die europäische Verteidigungsunion glaubwürdig wird, müsste das Atomwaffenpotential Frankreichs aufgestockt werden, da auf Grund der seit dem Zusammenbruch des ideologischen Gegners UdSSR geänderten nationalen Interessen der USA, unabhängig von Trump, die Glaubwürdigkeit einer atomaren Abschreckung durch sie nicht mehr gegeben ist. Das hätte auch Auswirkungen auf die Balance der verbleibenden Großen in der EU. Durch das Ausscheiden eines bedeutenden Nettozahlers kommt es jedenfalls zu einer finanziellen Schwächung der EU. Außerdem verändert sich die politische Balance weg von einem liberaleren in Richtung eines interventionistischeren Europa. Nachdem der europäische Bundesstaat für viele Jahre Utopie bleiben wird, überwiegen möglicherweise die Vorteile eines Verbleibs. Die EU wird auch in Zukunft mit oder ohne Großbritannien kleine Schritte machen, außer es kommt zu existenzbedrohenden Krisen für die Mitgliedsländer.