Kein Plan für Erdogan
Die türkische Regierung hat den Demonstranten mit dem Einsatz der Armee gedroht. Damit setzt sie auch die EU unter Druck, die neue Beitrittsgespräche mit Ankara anstrebt. Doch Kanzlerin Merkel und die anderen EU-Chefs wissen nicht, wie sie reagieren sollen – sie haben Erdogan nichts entgegenzusetzen.
Zwar rufen selbst besonnene Europapolitiker wie der außenpolitische CDU-Experte Brok zu einer Aussetzung der Beitrittsgespräche auf. Auch der FDP-Europaabgeordnete Lambsdorff ist auf Distanz zu Erdogan gegangen.
„Erdogan muss wissen, dass die Türkei der Europäischen Union beitreten möchte und nicht umgekehrt“, droht sogar Parlamentspräsident Schulz (SPD). Doch sie können sich noch nicht gegen die Realpolitiker in Brüssel und Berlin durchsetzen.
Die setzen nämlich weiter auf Business as usual. „Es gab schreckliche Bilder, auf denen man sehen konnte, dass hier doch viel zu hart aus meiner Sicht vorgegangen wurde“, sagte Kanzlerin Merkel am Montag in Berlin.
Doch auf die Frage, wie Deutschland und die EU auf die Eskalation reagieren solle, wich die Kanzlerin aus. Auch EU-Erweiterungskommissar Füle ging in Deckung.
Nur Luxemburgs Außenminister Asselborn bekannte Farbe: Wenn man die Beitrittsgespräche nun beende, wäre das eine „Niederlage für das türkische Volk“.
Zunächst zeichnet sich aber vor allem eine Niederlage der EU ab. Denn sie hat nur noch schlechte Optionen:
- Führt sie die Verhandlungen unbeirrt weiter, so fällt sie der Opposition gegen Erdogan in den Rücken – und verrät ihre eigenen Prinzipien. Meinungsfreiheit und Rechtsstaat wären Makulatur.
- Setzt sie dagegen die Verhandlungskapitel auf die Tagesordnung, die Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte verankern sollen – wie die Grünen fordern – dann kann dies nach Lage der Dinge nur zu einem Scheitern der Gespräche führen.
- Bricht die EU die Verhandlungen sofort ab, so verliert sie jeden Einfluss auf Erdogan und seine AKP-Partei. Zugleich würde die Hoffnung für die türkische Opposition schwinden, eines Tages von EU-Recht geschützt zu werden.
Jetzt rächt es sich, dass die EU nicht vor vorne herein demokratische Prinzipien zur Bedingung für Beitrittsgespräche gemacht hat. Auch das peinliche Buhlen der EU-Chefs fällt nun auf sie zurück (siehe „Erdogans lupenreine Freunde„).
Die EU hat weder einen „Plan B“ für die Türkei, noch eine Strategie für den Umgang mit Alleinherrschern. Das hat sich schon bei Putin in Russland gezeigt, es bestätigt sich bei Erdogan aufs Neue.
Fest steht nur eins: mit Erdogan ist kein EU-Staat mehr zu machen. Der Mann hat eine eigene, autoritäre Agenda – zu Europa passt die nicht…
Dies ist die gekürzte und aktualisierte Fassung eines Beitrags, den ich auf „telepolis“ veröffentlicht habe. Das Original steht hier. Siehe zu diesem Thema auch „Erdogans mächtiger Arm“
Baer
20. Juni 2013 @ 18:40
Ein guter Freund in der Türkei hat mir vor ungefähr 4 Jahren gesagt ,wir sollen uns hüten die Türkei in die EU auf zu nehmen ,denn sonst hat die EU verloren. Heute verstehe ich was er damit meinte. Für das türkische Volk tut es mir leid .Ob ein Beitritt wirklich so vorteilhaft wäre bezweifle ich, denn dann entstünde das gleiche Problem mit dem Euro , den schon alle Südländer haben .
Die Türkei ist in den letzten Jahren wirtschaftlich so erfolgreich, weil die Lira auf und abwerten kann, je nach Wirtschftsleistung . Im Euro würde das wegfallen …..
Mütercim Asim
20. Juni 2013 @ 11:59
Hier muss was richtig gestellt werden. Der Vize-Premier Arinc äußerte sich wie folgt:
[…] Valiler, önce polisleri, yetmezse jandarma güçlerini, eğer olaylar yayılırsa valilerimizin isteğiyle oradaki askeri güçler de huzurun sağlanması için görev yapabilir […].
Die Übersetzung lautet: Der Gouverneur kann für die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung zunächst die Polizei beauftragen, falls diese nicht ausreichen, die Einheiten der Gendarmerie und wenn auch diese nicht ausreichen und die Unruhen sich weiter ausweiten, können militärische Einheiten hinzugezogen werden.
Zusammenhang: Er erklärt, auf welche Maßnahmen Gouverneure zurückgreifen können, wenn in einer Provinz Unruhen entstehen und diese nicht mit Kräften der Polizei unter Kontrolle gehalten werden können.
Ralph Hirnrabe
19. Juni 2013 @ 01:48
Die Frage ist für mich, welcher Plan B hätte geholfen:
Ich habe schon 2008 behauptet, die Türkei ist trotz der ganzen Altnazis in der CDU bis 2015 in der EU, wenn sie denn noch will.
Denn…
natürlich würde die Türkei gern an die landwirtschaftliche EU Fördertöpfer heran.
Aber was wäre 2015, wenn die Türkei dank der vielen privilegierten Partnerschaften so viel Wohlstand geschaffen hat, dass sie zum Zahlerland in der EU würde? (Ja ich weiß als Bayer, dass die CSU erst eine privilegierte Partnerschaft vorschlagen will und die jetztigen Abkommen wohl üblich sein sollen)
Die „überraschende“ Bankenkrise in der EU hat vielleicht Erdogan schon früher umdenken lassen, denn ich halte ihn für einen großen Strategen (er steht Merkel vielleicht in nix nach, siehe bspw. Syrien):
Lieber Autokrat und weiterhin an den Schalthebeln der Macht, als Nettozahler in die EU.
Ähnlich wie Rußland kann Erdogan auch darauf spekulieren, dass sich bei Verschärfung der Krise nach der Bundestagswahl manche Länder sich wieder an das großtürkische Reich annähern.
Und unabhängig davon würde es mich nicht wundern, wenn der ein oder andere europäische Herrscher nicht mit großen Interesse nach Istanbul schaut, wie man das gemeine, aufmüpfige Volk in Schach hält. Zypern Enteignung war da ja nur ein kleiner Test, der als gelungen bezeichnet werden kann.
Johannes
18. Juni 2013 @ 21:20
Guter Artikel, I LIKE, THUMBS UP.
thomas
18. Juni 2013 @ 23:39
»Fest steht nur eins: mit Erdogan ist kein EU-Staat mehr zu machen. Der Mann hat eine eigene, autoritäre Agenda – zu Europa passt die nicht…«
…Irrtum! Genau die autoritäre Agenda passt verdammt gut zu dem Europa der faschistischen Konzerndiktatur, wie sie durch die Kommission vollzogen wird – ohne jede demokratische Legitimation!
ebo
18. Juni 2013 @ 12:53
@GS
Tja, die Grünen sind die wahren Liberalen 🙂
GS
18. Juni 2013 @ 12:51
Claudia Roht meint: „Jetzt erst recht (in die EU)!“