Neue Standards für grüne Finanzen – neuer Streit um Atom und Gas
Die EU hat sich auf neue Standards für nachhaltige, “grüne” Finanzprodukte und Investitionen geeinigt. Der Kompromiss gilt als historisch – er lässt aber auch eine Hintertür für Atomstrom und Gasförderung offen.
“Wir haben Geschichte geschrieben“, jubelte der für die Finanzbranche zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis nach der Last-Minute-Einigung am Montagabend in Straßburg. Die nun gefundene Vereinbarung werde dazu beitragen, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen.
Die Einigung zielt darauf ab, nachhaltige Geldanlagen und Investitionen zu fördern – und so die Finanzbranche auf den Umwelt- und Klimaschutz umzusteuern. Auch Bankkunden und Kleinanleger sollen zu grünen Investments ermuntert werden.
Dafür hat die EU eine einheitliche Definition – eine so genannte Taxonomie – für nachhaltige Finanzprodukte erarbeitet. Sie legt fest, was grün ist – und was nicht. Auch Risiken und Nebenwirkungen werden beachtet.
Nach der Vereinbarung soll es künftig drei Kategorien für nachhaltige und annähernd nachhaltige Finanzprodukte geben: “low-carbon”, “transition” und “enabling”.
Kohle wäre demnach nicht nachhaltig, bei Gas hinge die Einstufung vom Einzelfall und von der CO2-Bilanz ab. Bei der Atomkraft ließen sich die EU-Unterhändler eine Hintertür offen. Ob sie als grün eingestuft wird, solle erst Ende 2021 entschieden werden, erklärte der Chef des Umweltausschusses im Europaparlament, Pascal Canfin.
„Gas und Atom können auf keinen Fall als lupenreine grüne Investments eingestuft werden“, so der liberale Franzose. Aus den anderen Kategorien könne man sie jedoch nicht von vornherein ausschließen.
Die EU-Kommission wurde beauftragt, eine Liste mit möglichen Übergangstechnologien zu erarbeiten. Die Behörde soll auch entscheiden, ob die Kernkraft wegen des Atommülls als umweltschädlich eingestuft wird.
Gegen eine solche Einstufung hatten sich Frankreich und acht weitere EU-Staaten vehement gewehrt. Ein erster Kompromiss war am Einspruch dieser Länder gescheitert.
Die Energiepolitik ist in der EU Ländersache; die Mitgliedsländer können über ihren „Energiemix“ frei entscheiden. In der Finanzpolitik gelten jedoch andere Regeln.
Die große Frage ist nun, ob die Atomkraft über den Umweg der Finanzmarkt-Regulierung von der Förderung ausgeschlossen wird – und ob auch Gas als umweltschädlich eingestuft wird. Dann bekäme auch Deutschland ein Problem – Stichwort Nord Stream 2…
Watchlist
Hat nun Großbritannien das Sagen beim Brexit? Der durch die Unterhaus-Wahl gestärkte Premier Johnson macht jedenfalls mächtig Druck. Er will per Gesetz ausschließen, dass sich die Verhandlungen mit der EU über ein neues Handelsabkommen über Ende 2020 hinaus hinziehen. Brüssel würde hingegen lieber die Übergangsphase verlängern und die Gespräche in die Länge ziehen. Denn wenn man sich nicht rechtzeitig einigt, droht Chaos im Handel…
Was fehlt
- Neue EU-Kommission startet “Strategie für nachhaltiges Wachstum” – Die Zeit
- Nach Handelsdeal mit China: USA nehmen EU ins Visier – Der Standard
- Handelsüberschuss im Euro-Raum steigt überraschend deutlich – Handelsblatt
- „Pakt der Freien Städte“ : Osteuropas liberale Hauptstädte setzen Zeichen – Tagesspiegel
- Frontex stationiert Langstreckendrohnen im Mittelmeer – Telepolis
Dies war die letzte Watchlist EUropa in diesem Jahr. Der Blog läuft aber wie gewohnt weiter, watch this space 🙂
Peter Nemschak
21. Dezember 2019 @ 16:26
Auch die Kernkraft gehört im Verhältnis zu anderen Energieträgern richtig bepreist, d.h. inklusive der externen Kosten, die sie verursacht. Ohne Kernkraft wird die Welt den Klimazielen allerdings nicht näher kommen. Machen wir uns nichts vor: wir werden die Klimaerwärmung kaum aufhalten können, sehr wohl aber Technologien entwickeln, die uns die Anpassung an den Klimawandel erleichtern. Die entwickelten Länder sind dabei im Vorteil.
Orchideenfreund
20. Dezember 2019 @ 14:00
Sehr geehrter Herr Nemschak,
wo sehen Sie hier Unvernunft/Extremismus?
Die Kernkraft ist staatlich subventioniert (also spiegelt der erzeugte “billige” kWh Preis überhaupt nicht die wahren Kosten wieder, die Folgekosten sind im Grunde überhaupt nicht vernünftig kalkulierbar) und keineswegs grün im Sinne von nachhaltig und sicher. Die Pluspunkte bei der Versorgungssicherheit können diese Nachteile mMn. bei weitem nicht aufwiegen. Sie kann daher maximal noch als Brückentechnologie in einzelnen Staaten Bestandsschutz für einen gewissen Übergangszeitraum innehaben. Die wegfallenden Kapazitäten können dann durch Erdgas ersetzt werden, von welchem noch genügend vorhanden ist und viele Lieferanten existieren (Versorgungssicherheit) und welches weit weniger klimaschädlich als Erdöl oder gar Kohle ist.
Damit spreche ich mich wohlgemerkt explizit nicht gegen Forschungsaktivitäten in diesem Bereich (wie beispielsweise das Projekt ITER) aus. Auch die Förderung der Forschung zur schnelleren Umwandlung (Unschädlichmachung) der bestehenden radioaktiven Abfällen ist natürlich weiter erforderlich.
Beim Erdgas stimme ich den Vorrednern zu, dieses wird wohl noch auf unabsehbare Zeit benötigt, sowohl in Bezug auf die Versorgungssicherheit mit Energie, als auch schlicht zur Deckung des Bedarfs. Im Gegensatz zur Kernkraft – bei der uns Stand der Technik massenhaft für Mensch und Umwelt hoch toxischer und extrem langlebiger Müll übrig bleibt – kann das bestehende Gasnetz später auch zum Transport und der Speicherung von Wasserstoff (Energielieferant und Rohstoff einer “grünen Chemie”) genutzt werden.
Ich hoffe insofern, dass die politisch Verantwortlichen endgültig von der Kernkraft als Energiequelle abrücken. Der Entscheid Ende 2021 wird es zeigen.
Peter Nemschak
18. Dezember 2019 @ 09:27
Die menschliche Unvernunft des Extremismus triumphiert wieder einmal. Gas bleibt auch in Zukunft eine notwendige Ergänzungsenergie, ebenso wie Atomkraft eine relativ sichere Basisversorgung ermöglicht. Ohne sie sind die weltweiten Klimaziele noch schwieriger oder nicht zu erreichen. Es geht darum, die externen Kosten den Konsumenten zu verrechnen, womit weniger umweltfreundliche Energien relativ zu anderen teurer werden.
ebo
18. Dezember 2019 @ 14:53
Ja, ohne Atom und Gas wird es nicht gehen. Zum Glück hat Deutschland noch die Gaspipelines, sie werden einen “Deal” zur Atomkraft in Frankreich und anderswo erleichtern…