Nein, das EU-Recht hat nicht immer Vorrang
Im Streit mit Polen taucht ein Argument immer wieder auf: Das EU-Recht stehe über nationalem Recht, sogar über der Verfassung. Kommissionschefin von der Leyen stellt dies als gesichert dar – doch Juristen sehen das anders.
In den EU-Verträgen ist der Vorrang des EU-Rechts bis heute nicht geregelt, betont der rechtspolitische Korrespondent der taz, Ch. Rath. Die Annahme, dass EU-Recht immer vorgeht, beruhe ausschließlich auf Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der dies seit 1964 vertritt.
Die Luxemburger Richter glauben, dass eine Rechtsgemeinschaft wie die EU (und damals die EG) nur funktionieren könne, wenn das gemeinschaftliche Recht dem nationalen Recht vorgeht. Der Vorrang müsse deshalb auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht gelten.
Der amtierende Vorsitzende des EuGH, der Belgier Koen Lenaerts, hat dies kürzlich noch einmal bekräftigt. Ohne den Vorrang des EU-Rechts sei die Gleichheit der Bürger nicht mehr gewährleistet.
Doch dies ist ein schwaches Argument. Formal mag die Gleichheit vor dem Recht in der EU bestehen. In der Praxis jedoch nicht. Deutsche Staatsbürger genießen weitaus mehr Rechte als Rumänen oder Polen.
Karlsruhe hat viel mehr Macht
Und die Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben eine ganz andere Wirkung als – sagen wir – die Entscheidungen aus Portugal. Wenn Karlsruhe Nein sagt, kann dies die gesamte EU erschüttern.
Während der Eurokrise haben wir dies mehrfach erlebt. Es liegt unter anderem daran, dass ohne Deutschland in der EU nichts geht – und dass sich Bundestag und Bundesregierung an Urteile aus Karlsruhe gebunden fühlen.
Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch eine ganz spezielle Haltung zum EU-Recht. Grundsätzlich erkennt es dessen Vorrang an, jedoch mit wichtigen Ausnahmen und Abweichungen im Detail.
Das EU-Recht gehe nur in den Bereichen vor, in denen die EU-Staaten Brüssel eine Kompetenz eingeräumt haben. Eine “Kompetenz-Kompetenz” gebe es jedoch nicht, das sei im Einzelfall zu prüfen – auch in Karlsruhe.
Auf diese deutschen Vorbehalte beruft sich nun auch Polens Regierungschef Morawiecki. Die Bundesregierung bestreitet zwar, dass die polnische Auslegung der deutschen Rechtspraxis korrekt sei.
Doch zumindest in einem Punkt darf man Morawiecki folgen: Die Artikel 4 und 5 des EU-Vertrags, auf die er sich in seiner Rede im Europaparlament berufen hat, schränken den Arbeitsbereich der EU und die Geltung ihrer Gesetze ein.
So heißt es in Artikel 4: Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben gemäß Artikel 5 bei den Mitgliedstaaten.
Und Artikel 5 stellt klar: Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.
Von der begrenzten Einzelermächtigung sind wir bei von der Leyen jedoch meilenweit entfernt. Von den EU-Schulden über die Gesundheitsunion bis hin zur Verteidigung wagt sie sich ständig in neue Bereiche vor.
Entsprechend expansiv legt sie auch das EU-Recht aus…
Mehr zum Streit um den Rechtsstaat hier
Sylvia Schreiber
29. Oktober 2021 @ 11:47
Der Streit um die Kompetenz-Kompetenz ist rechtsdogmatisch hochinteressant: Durch das Vertragsverletzungsverfahren der VDL-Kommission gegen Deutschland (wg. Karlsruhe-Urteil gegen EZB-Anleiheankäufe) muß sich der EUGH nun selbst ein Urteil anmaßen über seine angeblich letztinstanzliche Zuständigkeit ! Darum geht es ja auch im Kern bei Polen. Nach seinem in den letzten Jahren entwickelten Selbstverständnis, ist auch schon klar, wie der EUGH entscheiden wird; Er hält sich immer und für alle Bereiche der EU als letztinstanzlich zuständig. Sowas nennt man anderwo Totalitarismus, liebe Leute ! Und dies widerspricht klar Artikel 4 und 5 des EU-Vertrages (Kompetenzzuweisung PER VERTRAG, Einzelermächtigungen, Subsidiaritäts- und Verhältnismässigkeitsproinzip). Entweder der EUGH wird jetzt durch eine Regierungkonferenz gestoppt, die bei Artikel 4 und 5 des Vertrages die eindeutige Auslegung bestätigt. Oder/Und: Es wird von dieser Regierungsckonferenz ein Rat aller Verfassungsgerichte der EU-Mitglieder eingerichtet, der mindestens dieselbe Kompetenz-Kompetenz besitzt und in strittigen Fällen zwischen den Regierungskonferenzen über strittige EUGH-Urteile befindet und die EU-Regierungen für weitere Entscheidungen berät. Andernfalls können EUGH-Urteile im einzelenn nicht mehr befolgt werden.
ebo
29. Oktober 2021 @ 12:07
Danke für den Kommentar, liebe Sylvia! Ganz so dramatisch sehe ich die Lage aber nicht.
Die Vertragsverletzungsverfahren zum Vorrang des EU-Recht führen nirgendwo hin, Berlin und Brüssel haben sich offenbar schon auf einen Formelkompromiß geeinigt.
Wenn es Polen ernst meint, dann muß es selbst eine EU-Reform anstoßen. Ich habe aber den eindruck, dass das Morawiecki nicht wirklich interessiert, ihm geht es vor allem um Innenpolitik…
Art Vanderley
22. Oktober 2021 @ 20:36
„beruhe ausschließlich auf Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der dies seit 1964 vertritt.“
Das zielt wohl ab auf sog. „Richterrecht“, wonach auch die Justiz selber, durch die Rechtsprechung direkt, gesetzliche Fakten schaffen kann, die dann tatsächlich einem Gesetz gleichgestellt sind, ganz ohne die Aktivität des Gesetzgebers.
Dennoch werden hier Äpfel mit Birnen verglichen. Richterrecht entsteht nicht durch das Urteil eines einzigen Gerichts, sondern durch die allmähliche Akzeptanz der enthaltenen Auslegung durch die allgemeine Rechtsprechung in einem Land mit langfristig gewachsenen Justizstrukturen.
Die anderen Gerichte der gewachsenen Strukturen sind hier die nationalen Verfassungsgerichte, und wenn die nicht ausreichend mitziehen, gibt es auch kein Richterrecht.
Die aktuelle Auslegung der Kommission riecht sehr nach gewolltem Zentralismus.
ebo
23. Oktober 2021 @ 12:56
Von der Leyen reißt jedenfals immer mehr Kompetenzen an sich. Über den 750 Mrd. Euro teuren Corona-Fonds kontrolliert sie ein schuldenfinanziertes Schattenbudget und die Reformen in den Mitgliedsstaaten. Das erlaubt ihr nun, Polen und Ungarn unter Druck zu setzen. Auch die Impfstoff-Beschaffung und die “Gesundheitsunion” hat sie zentral gesteuert. All dies ohne echte parlamentarische Kontrolle…
Art Vanderley
24. Oktober 2021 @ 20:46
“ein schuldenfinanziertes Schattenbudget und die Reformen in den Mitgliedsstaaten. ”
Mittlerweilen die übliche Vorgehensweise, die Umgeheung des Parlaments durch irgendwelche Institutionen und Kontrukte, die kaum oder gar nicht legitimiert sind durch Wahlen.