Merkels sieben Sünden – Teil 5: Der Merkantilismus

Wie fällt die Bilanz von Kanzlerin Merkel in der Europapolitik aus? Die Erfolge werden breit gewürdigt – wir wollen uns daher auf die Misserfolge und Sünden konzentrieren. Teil 5: Der Merkantilismus.

Merkantilismus (von französisch mercantile ‚kaufmännisch‘, lateinisch mercator ‚Kaufmann‘) ist eine Wirtschaftspolitik, die möglichst viele Waren aus dem Land ausführen möchte und möglichst wenig Waren ins Land lässt. Man wollte eine positive Leistungsbilanz haben. Dazu ergriff man auch Maßnahmen, um eine positive Handelsbilanz zu haben, speziell mit fertigen Produkten.

Wikipedia

In der Merkel-Ära hat Deutschland seinen Titel als „Export-Weltmeister“ verloren. 2008 setzte China zum Überholen an, seit 2009 fällt das größte EU-Land zurück. Gleichwohl hat sich an der Exportabhängigkeit nichts geändert.

In den siebzehn Jahren von 2004 bis 2020 lag der deutsche Handelsbilanzüberschuss sechszehnmal bei mehr als 150 Milliarden Euro. Der EU-Richtwert von sechs Prozent des BIP wurde immer wieder überschritten.

Konsequenzen hatte dies jedoch keine. Denn anders als Defizite werden Überschüsse in der EU nicht mit Strafen bedroht – das hat der frühere Bundesfinanzminister Schäuble in Brüssel durchgedrückt.

Einer ökonomischen Logik folgt das nicht – denn die Überschüsse des einen sind die Defizite der anderen. Deutschland exportiert nicht nur Autos und Maschinen, sondern auch Schulden und Arbeitslosigkeit.

Die „Exporterfolge“ werden zudem durch den Euro begünstigt. Für Deutschland ist er (verglichen mit dem Dollar) zu schwach, für Italien und andere Südländer zu stark. Dies führt zu Wettbewerbs-Verzerrungen.

Dennoch war Merkel lange über jede Kritik erhaben. In der Eurokrise konnte sie die Regeln diktieren; immer wieder empfahl sie den „Schuldensündern“ das deutsche Exportmodell zur Nachahmung.

Doch Merkels Doktrin, die vor allem auf Freihandel setzt, hat EUropa geschadet. Sie führt nicht nur zu „Ungleichgewichten“, die den Zusammenhalt der Eurozone gefährden, wie neuerdings sogar die EU-Kommission moniert.

Sie führte auch dazu, dass „deutschen Handels- und geoökonomische Interessen systematisch Vorrang vor demokratischen und menschenrechtlichen Werten oder innergemeinschaftlicher Solidarität“ gewährt wurde.1

Zudem wurde Deutschland und damit die EU immer abhängiger von China. Ohne die Exporte ins Reich der Mitte wäre der Konkjunkturmotor nach der Coronakrise viel später angesprungen, wenn überhaupt.

Eine weitere negative Folge sind die wachsenden Spannungen mit den USA. Schon Ex-Präsident Obama beschwerte sich über den deutschen „Freerider“, der seine Wirtschaft auf Kosten der Amerikaner am Laufen halte.2

Unter Trump wäre es fast zum Handelskrieg gekommen. Der wildgewordene Republikaner drohte Daimler und BMW mit Strafzöllen, nur durch Appeasement etwa bei der EU-Digitalsteuer konnte Berlin eine Eskalation verhindern.

Deutschland ist kein Handelsbetrüger, wie die Trump-Regierung behauptet hat. Und doch hat es unter Merkel eindeutig eine merkantilistische Wachstumsstrategie zulasten seiner Nachbarn verfolgt, die die Löhne drückt und den Export um jeden Preis steigert.

P. Legrain, ehemaliger Berater der EU-Kommission

Zum Ende der Ära Merkel wird zudem offensichtlich, dass auch Deutschland einen hohen Preis für seine Exportfixierung zahlt. Es wurde zu wenig investiert, die Infrastuktur liegt brach, die Produktivität leidet.

Konservative Ökonomen wie D. Stelter und progressive Experten wie M. Fratzscher haben die „Illusion der guten Wirtschaftspolitik“ zerpflückt und den „falschen Glanz der Exportweltmeisters“ entlarvt.

Der „Merkelismus“, diese merkwürdige Mischung aus Merkantilismus, Neoliberalismus und „Wait and see“ – hinterlässt keine blühende Landschaften, sondern riesige Reformbaustellen.

Brüssel ist weiter als Berlin

In Brüssel wird ihm niemand nachweinen. Hier hat man längst erkannt, dass der deutsche Export-Motor nicht ausreicht. Unter Ex-Kommissionspräsident Juncker wurde ein Investitionsfonds aufgelegt und eine „soziale Säule“ eingezogen.

Beidem hat sich Merkel widersetzt. Die beiden EU-Sozialgipfel hat sie geschwänzt, den „Juncker-Fonds“ verwässert. Investitionen sollte es, wenn überhaupt, nur unter deutscher Regie geben – EIB-Chef Heuer, ein FDP-Mann, passt auf.

Die Kanzlerin stemmte sich bis zuletzt gegen eine europäische Konjunkturpolitik. In der Coronakrise hat Merkel erst dann ihren Widerstand aufgegeben, als die Versorgung gefährdet war und die Wirtschaft vor einem Kollaps des Binnenmarkts warnte.

Möglichst viele Waren ausführen, möglichst wenig einführen – diese Devise wäre EUropa beinahe zum Verhängnis geworden….

Teil 1 der Serie steht hier. Mehr zu Merkel hier

P.S. Dem Merkantilismus nach außen entspricht der Korporatismus nach innen. Merkel hat – genau wie ihr Amtsvorgänger Schröder – die Nähe zur deutschen Industrie gesucht und in Brüssel alles verhindert, was deren dominante Stellung infrage stellen würde. Europäische Industriepolitik war jahrelang tabu, ein EU-Technologieinstitut nach dem Vorbild der MIT wurde zur Bedeutungslosigkeit eingedampft…

Literatur:

1 M. Matthijs, R. D. Kelemen: „Retterin Europas“? Die andere Seite von Angela Merkel, Foreign Policy, zitiert nach Merkur vom 17.09.2021

2 P Krugman: Those Depressing Germans, Economist’s View 4.11.2013