Rückzieher beim Rechtsstaat
Der neue Rechtsstaats-Mechanismus wird immer mehr aufgeweicht. Von den groß angekündigten finanziellen Sanktionen gegen EU-Länder wie Ungarn oder Polen bleibt nichts übrig. Dies geht aus einem Brief des deutschen EU-Vorsitzes hervor.
Als Kanzlerin Merkel im Juli den EU-Vorsitz übernahm, hielt sie eine große, emotionale Rede im Europaparlament. „Menschen- und Bürgerrechte sind das wertvollste Gut, das wir in Europa haben“, sagte sie. Jedes Land in Europa erinnere sich anders an seine Kämpfe für Freiheit und Rechtsstaat, „zugleich eint uns genau diese Errungenschaft der Grundrechte“.
Doch vier Monate später klingen die hehren Worte hohl. Der Rechtsstaats-Mechanismus, den der deutsche Vorsitz vorgelegt hat, soll zwar das neue EU-Budget vor Mißbrauch schützen – was ein Fortschritt wäre. Doch dafür müssen Verstöße direkte Auswirkungen auf den Gemeinschaftshaushalt haben. Ein Abbau des Rechtsstaats reicht nicht aus.
Nun macht Deutschland einen weiteren Rückzieher. Das geplante neue Prozedere “kann und wird kein finanzieller Sanktions-Mechanismus für Staaten sein, die den Rechtsstaat nicht respektieren”, schrieb Botschafter Claus in einem Brief an das Europaparlament. Dafür gebe es schon das Artikel-7-Verfahren, das zum Entzug des Stimmrechts führen kann.
Doch Artikel 7 funktioniert nicht, weil Ungarn und Polen sich gegenseitig per Veto decken. Genau deshalb war der neue Rechtsstaats-Mechanismus ursprünglich konzipiert worden. Er sollte es erlauben, die “Sünder” genau da zu packen, wo es am meisten wehtut: am Geldbeutel. Doch das will der deutsche EU-Vorsitz plötzlich nicht mehr wahrhaben.
Im Europaparlament kommt das nicht gut an. Der grüne EUropaabgeordnete D. Freund wirft Clauss vor, den EU-Vertrag falsch auszulegen und Unwahrheiten zu verbreiten.
.@EU2020DE tells MEPs that our #ruleoflaw mechanism is incompatible with existing Article 7 – therefore cannot be considered. This is simply not true – as @ProfPech @rdanielkelemen and Kim Scheppele have argued in 2018 (!) already 👇@Verfassungsbloghttps://t.co/TNjA7H83DE pic.twitter.com/kpSYNmoDF4
— Daniel Freund (@daniel_freund) October 7, 2020
Zudem haben die Chefs aller großen Fraktionen im EU-Parlament einen offenen Brief geschrieben. “Europäische Werte stehen nicht zum Verkauf”, heißt es darin. Es klingt wie eine Kampfansage an die Kanzlerin, die die Abgeordneten im Juli noch begeistert empfangen hatten…
Siehe auch “Corona-Präsidentschaft: In The Middle of Nowhere”
Weber
10. Oktober 2020 @ 10:54
Zu: “Doch dafür müssen Verstöße direkte Auswirkungen auf den Gemeinschaftshaushalt haben. Ein Abbau des Rechtsstaats reicht nicht aus.” Es geht mitnichten um höhere Werte und (Bürger-)Rechte, sondern um Geld, das sind die wahren EU-Grundwerte. Im übrigen unterscheidet sich ein Rechtsstaat vom “Unrechtsstaat” nur dadurch, daß die Staatsgewalt im Rechtsstaat rechtlich fixiert ist. Wenn in der BRD jemand legal umgebracht werden soll, reicht schon die legalisierte “Putativnotwehr”. Und Tod aufgrund von Armut ist sowieso völlig legal, das Recht auf Eigentum ist gesichert, wer keins hat, ist selber schuld.