Luftraum-Verletzung in Estland – der fehlende Kontext

Die (angebliche) Verletzung des estnischen Luftraums durch russische Kampfjets wird zur Staatsaffäre. Der UN-Sicherheitsrat kommt deshalb am Montag zu einer Sondersitzung zusammen. Auch der Nato-Rat wird sich mit dem Vorfall befassen. Was ist da los?

Ich habe versucht, den Vorfall einzuordnen. Und siehe da: Die Sache sieht gleich ganz anders aus, wenn man den politischen und militärischen Kontext einbezieht.

Zum politischen Kontext gehört eine Ankündigung des Pentagon, die US-Hilfe für das Baltikum einzuschränken. Das dürfte Estland und die anderen Balten aufgeschreckt haben.

Nun stellen sie selbst kleine Vorfälle wie den über der winzigen Insel Vaindloo als riesige Bedrohung dar – vermutlich, um das Pentagon und US-Präsident Trump umzustimmen.

Das könnte sogar gelingen: Jedenfalls sicherte Trump den Baltenstaaten und Polen den Beistand der USA im Falle einer Eskalation durch Russland zu.

Zum militärischen Kontext gehört, dass Estland versucht, seinen “exklusiven” Luftraum über der Ostsee auszuweiten. Nach offizieller Lesart reicht er bis zur Grenze der EEZ – Russland sieht dies aber anders.

Die von Estland veröffentlichte Flugroute zeigt, dass die russischen Jets schnurgerade entlang der EEZ-Grenze geflogen sind, womöglich ein wenig innerhalb. Sie haben nicht versucht, auf Tallin zuzusteuern.

Zum militärischen Kontext gehört auch, daß die umstrittene Flugroute in die russische Enklave Kaliningrad führt. Die Russen provozieren nicht und greifen nicht an – sie fliegen auf einen Airport in ihrer Heimat.

“Kein Grund zur Panik”

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Dabei hat es schon öfter  Luftraum-Verletzungen gegeben – ein Experte nennt 40 Fälle seit 2014. Estland und die Nato haben seither auch eine gewisse Routine des “Air policing” entwickelt.

Zwar dauerte der Vorfall diesmal länger als gewöhnlich. Außerdem ist die Öffentlichkeit durch die Drohnen-Vorfälle in Polen alarmiert. Dennoch bestehe “kein Grund zu Panik“, so der o.g. Experte. Zitat:

Despite appearances – carefully cultivated by Moscow – this was a cautious infringement. The Russians deviated only slightly from their usual route, left themselves the excuse of a navigational error, carried no visible armaments, and complied when NATO fighters forced them out.

Dementsprechend gelassen gibt sich die Nato. Sie hat es mit Gegenmaßnahmen nicht eilig – warum auch? Es bestand keine Gefahr. Und nicht nur Russland verletzt regelmäßig den alliierten Luftraum.

Türkei ist viel aggressiver

Wesentlich aktiver – und aggressiver – geht das Nato-Mitglied Türkei vor. Allein 2022 registrierte Griechenland mehr als 200 unerlaubte Luftraumverletzungen durch türkische Kampfjets.

Oftmals wurden dabei auch bewohnte griechische Inseln wie Agathonisi und Samos überflogen, in einigen Fällen kam es sogar zu simulierten Luftkämpfen (sog. Dogfights).

Doch das wird in den aufgeregten Berichten über Estland verschwiegen. Wenn die Türkei mal erwähnt wird, dann als “Vorbild”, weil sie 2015 einen russischen Jet abgeschossen hat.

Danach war aber keineswegs Ruhe, wie viele Heißsporne behaupten. Vielmehr heizte sich der Konflikt bedrohlich auf; erst ein Gipfeltreffen konnte die Krise beenden. Die Nato war machtlos…

Siehe auch den Update Estland: Von russischen Jets ging keine Gefahr aus

P. S. Übrigens stößt Israel derzeit wilde Drohungen gegen die Türkei aus – es könne das nächste Katar sein. Dazu hören wir aber nichts aus der Nato oder der EU. Warum nur?