Italien: So wirken die EU-Vorgaben (nicht)
Der Streit um die Budgetplanung für Italien läuft aus dem Ruder. Die EU-Kommission und die Regierung in Rom überhäufen sich mit Vorwürfen und Drohungen. Dabei bleiben die Fakten auf der Strecke – sie sind (wie so oft) unbequem .
Erste Feststellung: Die italienischen Schulden sind erst seit der Finanzkrise bedenklich in die Höhe geschnellt. Vorher lagen sie knapp über 100 Prozent des BIP, heute bei über 130. Das Problem ist offenbar nicht (nur) hausgemacht.
Den aktuellen Höhepunkt erreichten sie schon 2014. Seither bleibt die Gesamtverschuldung praktisch unverändert auf demselben hohen Niveau – und das trotz der EU-Vorgaben zum Sparen (Quelle: Tradingeconomics)
Denn gleichzeitig ist das Wachstum eingebrochen – und damit die Steuereinnahmen. Das mangelnde Wachstum scheint ohnehin das Hautproblem in Italien zu sein, wie folgende Grafik zeigt.
Und wie sieht es nun mit der Neuverschuldung aus, die im Mittelpunkt des aktuellen Streits steht? Sie wurde seit 2014 nach und nach gesenkt – den Vorgaben aus Brüssel folgend.
Allerdings lag sie 2017 immer noch bei 2,3 Prozent – also nicht weit von dem entfernt, was die Populisten-Regierung in Rom auch für 2019 plant (2,4 Prozent).
Vor allem zeigen die Grafiken aber, dass die Gesamtverschuldung trotz der sinkenden Neuverschuldung kaum abgebaut wurde. Dies liegt offensichtlich am fehlenden Wirtschaftswachstum.
Statt über das Budgetdefizit zu streiten, sollten sich Brüssel und Rom also lieber Gedanken machen, wie das Wachstum angekurbelt werden kann. Und die EU sollte einsehen, dass ihre bisherige Strategie gescheitert ist…
Siehe auch „Hier sind die Sparvorgaben für Italien“
Peter Nemschak
3. Oktober 2018 @ 15:38
@ebo Das hindert Deutschland allerdings nicht daran, die wirtschaftlich stärkste Macht in der EU zu sein. Wie zäh gesellschaftliche Prägungen und Gewohnheiten sind, zeigt das von Ihnen angesprochene Beispiel der ehemaligen DDR, die trotz Milliardentransfers über eine Generation nach wie vor hinter der ehemaligen Bundesrepublik wirtschaftlich nachhinkt. Selbst ein föderaler Bundesstaat wie Deutschland tut sich schwer damit. Für einen Bund souveräner Staaten ist es noch ungleich schwieriger. Auch andere Euroländer haben, historisch gewachsen, bestimmte gesellschaftliche Erfahrungen und Präferenzen, kommen aber mit dem Euro besser zurecht als die Länder im Süden Europas. Daher darf der Euro nicht zur politisch oktroyierten Zwangsjacke werden. Mit Ungleichheit muss man leben, auch wenn ein Mindestmaß an Gleichheit erforderlich ist, um eine Gesellschaft oder einen Staatenbund zusammenzuhalten. Unterschiedliche Ansichten über das „richtige“ Maß an Gleichheit werden immer Dauerthema der politischen Auseinandersetzung sein. Es gibt dafür keine Weltformel.
ebo
3. Oktober 2018 @ 16:26
Die Bundesrepublik stieg zur stärksten Macht auf, indem sie die DDR übernahm und sofort in den EU-Binnenmarkt integrierte, obwohl dafür alle Voraussetzungen fehlten. Brüssel hat schon damals eine „Ausnahme“ für Berlin gemacht, das wird heute gern vergessen…
Peter Nemschak
3. Oktober 2018 @ 17:53
Die frühere DDR wurde in die Bundesrepublik „fusioniert“. Somit gab es nach außen hin einen Staat Deutschland. Warum bedurfte es dafür einer Ausnahmeregelung, was die Integration in den Binnenmarkt betrifft? Der Umtausch Ostmark gegen Westmark 1:1 und seine wirtschaftlichen Auswirkungen auf Deutschland waren eine politische Entscheidung der damaligen deutschen politischen Elite. Dass Frankreich und Italien sich die Wiedervereinigung Deutschlands mit dem Euro abkaufen ließen, war eine andere Sache. Dass die für sie erhofften wirtschaftlichen Vorteile nicht wie geplant eingetreten sind, ist ihr Pech. Deutschland hat gegenüber dem Rest der Welt keine politische Restschuld abzutragen und muss sich von historischen Restschuldgefühlen befreien, wenn es eine führende Rolle in Europa und der Welt auf Augenhöhe mit den anderen geopolitischen Akteuren in Zukunft spielen will. Seit 1945 sind zwei Generationen vergangen. Die heute 73 Jährigen und Jüngeren haben mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 nichts am Hut. Sie waren damals noch nicht einmal auf der Welt.
Peter Nemschak
3. Oktober 2018 @ 11:55
Die vorliegenden Zahlen zeigen, dass sich im Unterschied zu anderen Staaten Italien nach der Finanzkrise nicht wirklich erholt hat. Das hat strukturelle Ursachen in der italienischen Gesellschaft und Politik, die sich zumindest mittelfristig nicht ändern werden. Daher braucht Italien eine eigene Währung, die das Land periodisch abwerten kann. Der Euro ist nichts für Italien. Letztlich ist die politische Strategie der Franzosen und Italiener gescheitert, den ehemaligen Hartwährungsländern in der EU den EURO politisch aufzuzwingen. Ein Rückbau der Eurozone bietet sich als Konsequenz an.
ebo
3. Oktober 2018 @ 12:03
Meiner Meinung nach liegt die schlechte Performance vor allem im maroden Bankensystem und in der verfehlten, von Brüssel verschlimmbesserten Fiskalpolitik. Ansonsten steht Italien gar nicht so schlecht da – mit einem Leistungsbilanz-Überschuss und einen Primärüberschuss im Budget droht keine akute Krise. Don’t believe the hype! Und bitte wiederholen Sie nicht ständig die alten Klischees aus der Vor-Euro-Zeit…
Peter Nemschak
3. Oktober 2018 @ 12:32
Warum wurde das marode Bankensystem nicht längst saniert? Warum hat Italien bis heute keine Verfassungsreform geschafft? Warum hat Italien seit dem Zweiten Weltkrieg sein Nord-Südproblem bis heute nicht in den Griff bekommen? Bis zur Finanzkrise 2008 standen dafür über 60 Jahre zur Verfügung. In dieser Zeit sind ehemals arme asiatische Agrarstaaten wie Südkorea reich geworden. Dass die Korruption ein weitverbreitetes gesellschaftliches Phänomen in Italien ist, darf man nicht wegreden. Warum hat die Kapitalflucht aus Italien, vor allem in Richtung Schweiz, eine jahrzehntelange Tradition, lange bevor es den Euro gab? Warum hat Italien eine ungleichere Einkommens- und Vermögensverteilung als der Norden Europas?All dies zusammengenommen macht das Land nicht eurotauglich. Es bringt nichts Illusionen nachzujagen. Wer Vielfalt in der EU begrüßt, darf nicht gleichzeitig eine gemeinsame Währung für möglichst viele Mitgliedsländer anstreben.
ebo
3. Oktober 2018 @ 14:15
Warum hat Deutschland sein Ost-West-Problem nicht in den Griff bekommen? Wir schreiben den 3. Oktober, lesen Sie mal den Beitrag in der „Süddeutschen“ https://www.sueddeutsche.de/politik/deutsche-einheit-unvollendet-1.4152191