Institutionen-Versagen
Brüssel bereitet sich auf „den“ Gipfel des Jahres vor. Eigentlich sollte er „die“ große EU-Reform bringen, mit „Aufbruch“ und so. Doch nun geht es plötzlich um Kanzlerin Merkel, die Flüchtlinge und das Überleben der EU.
- Merkel: Sie appellierte am Dienstag an CDU und CSU, sich einig zu zeigen – und bekam dafür lang anhaltenden Beifall. Liegt da etwa Entspannung in der Luft? Wird der EU-Gipfel für die Kanzlerin vielleicht doch nicht so wichtig?
- Die Flüchtlinge: Sie werden beim Gipfel nur eine Nebenrolle spielen – genau wie das Schicksal der „Lifeline“, das beim Merkel-Gipfel am Sonntag ja auch kein Thema war. Viel wichtiger wird die „Sicherung der Außengrenzen“.
- Das Überleben der EU. Das sei auch ohne Einigung gesichert, sagte der scheidende grüne Europaabgeordnete J.P. Albrecht am Dienstag zu seinem Abschied aus Brüssel (er wird Minister in Kiel). Demgegenüber sieht die Chefin der Linksfraktion, G. Zimmer, Europa vor einem Rückfall in die „Barbarei“. Gegen Orban und Salvini gelte es, Merkel und die EU zu verteidigen.
Das lässt aufhorchen. Die Linke lobt Merkel – jedenfalls die Flüchtlingskanzlerin des Jahres 2015. Gleichzeitig bereitet Merkel eine neue Welle der Abschottung und Abschiebung vor. Ja, sind denn alle verrückt geworden?
Meine Analyse geht ein wenig anders. Ich sehe hier – analog zum Staatsversagen in Berlin 2015 – ein Institutionen-Versagen in Brüssel. Die EU wird ihrer Rolle nicht mehr gerecht, sie vereint nicht mehr und lässt sich instrumentalisieren.
Besonders deutlich ist dies in der EU-Kommission. Beim Krisengipfel am Sonntag waren Kommissionschef Juncker und Generalsekretär Selmayr nicht nur Gastgeber, sondern auch Stichwortgeber der Kanzlerin. Die Kommission hat Ratspräsident Tusk übergangen, der die EU-Gipfel normalerweise ausrichtet, und einem (deutschen) EUropa à la carte den Weg bereitet.
Auch das Europaparlament hat versagt. Es hat sich längst auf einen achtbaren Kompromiss zur Flüchtlingspolitik geeinigt, incl. Umverteilung und Grenzschutz. Sogar CDU und CSU haben unterschrieben, Fraktionschef Weber ist ja CSU-Mitglied. Doch statt für ihren Kompromiss zu kämpfen, auch gegen Merkel, lassen die MEP ihren Präsidenten Tajani italienisch reden…
Am schlimmsten ist die Lage aber im Rat. Dort wird gerade die „Leader’s agenda“ über den Haufen geworfen, die Ratspräsident Tusk im Herbst noch feierlich verabschieden ließ. Asylreform, Euro-Reform, Brexit-Einigung – nichts davon ist zustande gekommen. Der Rat ist nicht nur ratlos, sondern völlig zerstritten. Und dieser Laden soll Merkel retten?
Aber Vorsicht: Auch wenn die drei Brüsseler Institutionen versagen, heißt das noch lange nicht, dass die EU zusammenbricht. Sie ist einfach nur gescheitert – wie schon in der Eurokrise. Trotzdem geht es weiter, immer weiter…
WATCHLIST:
- Die Gipfelvorbereitungen. Diesmal gilt es gleich mehrere Mächte, Blöcke und Achsen zu beachten. Zum Beispiel Deutschland und Frankreich (die Mächte), die Visegrad-Gruppe und die neue Hanse (zwei mächtige Blöcke) – und die Achse Rom-Wien-München (die Achse des Kurz’en). Jeder versucht, schon vor dem Gipfel Punkte zu machen…
WAS FEHLT:
- Eine Vision für die Europawahl. Wenn dieser Gipfel so wird, wie er wohl werden muss, wird er kein attraktives Angebot für die Europawahl 2019 liefern. Die EU bleibt unreformiert und ungeeint, ein gemeinsames Ziel ist nicht mehr erkennbar. Aber vielleicht kommt Hoffnung aus Paris und Madrid: Da ist etwas „en marche“, berichtet „Politico“…
Peter Nemschak
27. Juni 2018 @ 08:38
Statt einander Rechts-/Linksgefechte auf moralischer Ebene zu liefern, sollten die verantwortlichen Politiker endlich das umsetzen, was sich die Mehrheit der Bürger wünscht: Verhinderung illegaler Zuwanderung und Beschränkung legaler Zuwanderung in die europäische Wohlstandszone. Alle Maßnahmen, rechtlich, politisch und faktisch sind darauf auszurichten und haben absolute Priorität. Gegebenenfalls ist EU-Recht restriktiver als bisher zu interpretieren oder zu ändern. Was sich die Mehrheit der Bürger wünscht, eint Europa. Es muss bloß umgesetzt werden. Es ist den Bürgern gleichgültig, ob die Regierungen der Mitgliedstaaten es im Konsens intergouvernmental oder durch die supranationalen Institutionen umsetzen. Die meisten Bürger kennen ohnedies nicht den Unterschied. Eine intensivere Zusammenarbeit mit der UNO wäre aus verschiedenen Gründen interessant. Erstens, um praktische Lösungen für die Unterbringung von Asylsuchenden außerhalb Europas zu finden und die internationale Gemeinschaft dabei moralisch einzubinden, darüber hinaus ein Zeichen in die Welt der Staaten zu setzen, dass die EU im Unterschied zu den sich isolierenden USA Multilateralismus lebt. Das würde das Ansehen der EU und ihre Softpower in der Welt stärken. Gleichzeitig wäre es sinnvoll, sich mit China und Russland abzustimmen, um den Wirtschaftskrieg gegen die Trump-Administration effektiver und situationselastisch führen zu können. Die Lösung der Migrationskrise wäre ein gelungener Neubeginn der EU, jedenfalls besser als das Aufbruchsgelaber, das niemand mehr hören will. Der Rest kann folgen.